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Die letzten Preußen
Das Hultschiner Ländchen ist eine klassische Nahtstelle, an der verschiedene Kulturen aufeinandertreffen
Die Leute sind sehr nett im Hultschiner Ländchen, das ist das Wichtigste. Dass manche Schlösser
imWintergeschlossensind,istnichtsoschlimm.Eswirdvollkommenaufgewogendadurch,dass
man als durchreisender Fremder hier nur mit freundlichen Frauen in Kontakt kommt. Schon die
Dame im Informationszentrum von Schloss Hultschin war sehr hilfsbereit und hatte allerlei Ma-
terial zur Hand. Auch die Sprecherin der Stadt in ihrem hohen Büro im Rathaus gab bereitwillig
Auskunft.AlsBahnreisenderaufdereingleisigenStreckevonHultschinnachKrawarnwirdman
ebenfalls ausschließlich von Frauen betreut: Eine verkauft die Karten und erklärt aufs Netteste
und Genaueste die Möglichkeiten der Rückfahrt, eine andere hebt die Kelle und lässt den Zug
abfahren. Die Fahrscheinkontrolle obliegt zwei Schaffnerinnen mit stolzen Mützen, sie tragen die
Dienstausweise mit Lichtbild offen am Anorak.
TschechischeProvinzbahnhöfewerdenmeistensvonFrauengeleitetundbetrieben.Manchmal
kommt man in Wartezimmer, die eingerichtet sind wie Wohnküchen aus alter Zeit, in der Mitte
steht ein Tisch mit kariertem Wachstuch, darauf ein kleiner Blumenstrauß. Manchmal sitzen die
Leute, wie in Hultschin, nur auf ein paar einfachen Bänken und wärmen sich, bis der kleine Zug
mit seinen vier roten Waggons in den Sackbahnhof rollt.
GutzwanzigMinutendauertdieReisedurchsHultschinerLändchennachKrawarn,siekostet
dreiundzwanzig Kronen, knapp einen Euro. Große Büsche ragen nahe ans Bahngleis und ans
Zugfenster heran. Man passiert verwitternde Fabriken und Hinterhöfe, auf denen Hühner und
Gänsesichtummeln.DieLandschaftistweit,dasWintergetreideisteingesät,aufdenHügelnam
Rande lichtet sich der Wald. Von Zeit zu Zeit gibt der Zug ein dunkles Signal, damit sich an den
unbeschrankten Bahnübergängen kein Leichtsinniger auf das Gleis begebe, und er hält in jedem
Dorf. An den kleinen Bahnhöfen stehen Fahrräder im Ständer, und zwischen den Gleisen wächst
Gras.
Manchmal, wenn man über die Felder blickt und sich dem eisernen Ruckeln des Zuges über-
lässt, könnte man sich in die Zeit zurückversetzt fühlen, in der in diesen Breiten noch der Kaiser
FranzJosephherrschte.AberdannfälltderBlickamnächstenBahnhofaufjeneungesundbunten
Grafiti, die man in Tschechien so häuig indet, und man liest: »Fuck all«. Außerdem lehrt der
Blick in den Fremdenführer: Dies war, auch wenn Ostrau, Krakau, Brünn und Wien nicht allzu
weit entfernt sind, vor hundert Jahren kein Habsburger Land. Hier herrschten die Preußen, und
ihre letzten Nachfahren leben heute hier.
Jedenfalls sagt dies die charmante Kellnerin in der Schlossgaststätte von Krawarn, die mit
gekonntem Schwung eine dampfende Rinderbrühe serviert. Die Speisekarte ist in Tschechisch
undinPolnischgehalten,aberwasdieDamemitihrerKollegindaredet,istwederdasEinenoch
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