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Lichte Weite
Der Streit um den Erhalt der famosen Villa Tugendhat in Brünn
HäuserhabenihreSchicksale,sowieBücher.Diesemhierwarübelmitgespieltworden,mankon-
nte das gleich sehen. Wenn man in früheren Jahren am Zaun auf der Straße die Stunde des Ein-
lasses erwartete, erfasste der schlendernde Blick vermooste Fugen und verrostete Gittergestänge,
Risse und Regenlecken im Putz, gesprungenes Holz. Alles hatte indes nicht den Charme des
Gealterten,Geachteten,vielmehrwarenesVerwilderungundVerwahrlosung,diediesemeinstso
sehr auf die Gediegenheit seiner Oberlächen berechneten Gebäude in sieben Jahrzehnten zuge-
setzt hatten. Im Garten gaben Baumschösslinge und Grasbüschel das gleiche Bild ab. Und am
Gebäudebestand der Nachbargrundstücke signalisierten überwucherte Dachtraufen, knallfrische
Farbfassaden und Firmenschilder auf Englisch, dass man sich hier in einem ehemaligen Villen-
viertel befand, das seine neue Bestimmung in der postkommunistischen Gegenwart noch nicht
gefunden hatte.
HausNr.45inderČernopolníuliceinBrünnistdieVillaTugendhat,diejederArchitekturstu-
dent als ein epochemachendes Meisterwerk des Funktionalismus kennt. Seit 2001 ist sie bei der
UNESCO als Teil des Weltkulturerbes registriert. Als Ludwig Mies van der Rohe, der Apologet
des »Less is more«, das formidable Einfamilienhaus 1930 fertiggestellt hatte, da schwärmte bald
danach der Bauherr, der Brünner Textilindustrielle Fritz Tugendhat: »Wenn ich diese Räume und
alles, was sich darin beindet, auf mich als Ganzes wirken lasse, dann sehe ich deutlich: Dies ist
Schönheit, dies ist Wahrheit.« Seine Ehefrau Grete stand nicht zurück: »Wir wohnen sehr gern
hier, sodass wir uns nur schwer zu einer Reise entschließen können und uns befreit fühlen, wenn
wir aus engen Zimmern wieder in unsere weiten, beruhigenden Räume kommen.«
Mankanndergleichennochimmernachempinden,wennmanimTrossderFremdenführerin
mit nylonblauer Schuhverkleidung auf Travertin das Wohngeschoss betritt. Weite ist ein viel
zu enges Wort für diese Dehnung und Erhellung des Raumes mittels einer dünnen Wand aus
marokkanischem Onyx und einer Außenfront aus Glas, die in suggestiver Stufung zwanglos in
den Wintergarten, den kleinen Park, den Hang, die ganze Stadt hinüberleitet. Doch nimmt das
überwältigte Auge nicht nur in der Ferne die Kathedrale auf dem Hügel wahr, sondern auch die
ältelndenHochhäuserimMittelgrund.UndwenndieFremdenführerinfrüher,umeinedervielen
technischen Finessen des Bauwerks vorzuführen, die große Glaswand zur Terrasse in die Versen-
kungschickteunddasGezwitscherderVögelhereinließ,dannkamauchderRostamFensterrah-
menindenBlick.Farbeblätterteab,ineinerGlaspartiewareinRissmitStreifenverklebt.Undin
der Bibliothek, wo im Regal noch die Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure in alten Jahr-
gängen gebunden steht, hatte Sickerwasser an der Decke Schorf geworfen.
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