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einem anachronistischen Hemmnis entwickelt hatte, war das eines der tragischen
Probleme, denen sich das Königreich zu stellen hatte. Die Zeitungsberichte, die Fotos der
gefangengenommenen Banditen bestärkten das Bild des Mezzogiorno als einem finsteren,
mysterösen Land der Gesetzlosen. Überall verbreiteten sich die Gerüchte über schauerlich-
pittoreske Rituale wie aus dem Mittelalter, etwa dass die Briganten menschliche Schädel
als Trinkgefäße benutzten oder die noch schlagenden Herzen ihrer getöteten Feinde
verschlängen. In der Tat gab es jede Menge Briganten, aber nicht nur im Süden. Im
toskanisch-emilianischen Apennin oder in der toskanisch-lazialen Maremma trieben kaum
weniger Gesetzlose ihr Unwesen. Noch heute hängen dort in rustikalen Trattorien
Fotografien von Briganten, die als Tote, die Waffen griffbereit, in Pose gesetzt wurden: an
eine Mauer gelehnt, von einem Baumstamm aufrecht gehalten.
Die Briganten des Mezzogiorno aber bleiben ein spezielles und sehr viel
beunruhigenderes Problem. Sie sind Teil eines großen Gesamtbildes aus Analphabetismus,
Armut und Elend, zivilisatorischem Verfall, in völlig unerschlossenen Landstrichen, dazu
mit einer Bevölkerung, an deren Loyalität gegenüber dem Königreich große Zweifel
angebracht waren, allen «Plebisziten» zum Trotz.[ 8 ] Ein Phänomen, das durch das
Fortbestehen eines substanziell feudalen Systems und die unübersichtliche, zu großen
Teilen unbewohnte, raue, gebirgige Landschaft voller Wälder, Höhlen, Schluchten noch
verschärft wurde.
1799 hatte Ferdinand IV. von Bourbon dem adeligen Kalabreser Kadetten Kardinal
Ruffo, dessen Heer (die lazzari[ 9 ] ) überwiegend aus Banditen und ausgebrochenen
Gefängnisinsassen bestand, die Rückeroberung Neapels übertragen. Nach dem Ende der
Operation wurden einige Bandenanführer ausgezeichnet und zu Generälen ernannt; unter
ihnen Michele Arcangelo Pezza, eine undurchsichtige Figur: Draufgänger und Abenteurer,
grausamer Bandit und großzügiger Guerillero zugleich, bekannt als Fra Diavolo (Bruder
Teufel). Zahlreiche Filme sind über ihn gedreht worden, einer sogar mit Stan und Ollie,
und genauso viel ist über ihn geschrieben worden. In seinem historischen Roman La
Sanfelice erzählt Alexandre Dumas von ihm, und im Grafen von Montecristo zeichnet er das
romantisch kolorierte Bild einer dieser Banden.
Über Fra Diavolo schreibt sehr eindrücklich auch Stendhal,[ 10 ] der von den
 
 
 
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