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Niederschlagung der Revolution von 1848 beim Versuch, sein Königreich gegen alle
politischen und intellektuellen Einflüsse von außen abzuschotten, mit knallharter
Repression durchgegriffen hatte. Die erste Volkszählung des Königreichs Italien (1861)
förderte zutage, dass einer durchschnittlichen Analphabetenrate von 67 Prozent im
Norden der erschreckende Extremwert von 87 Prozent im Süden gegenüberstand. Nach
den Forschungen des Linguisten Tullio De Mauro war der Gebrauch des Italienischen als
geläufiges Kommunikationsmittel nur bei acht Tausendsteln der Bevölkerung der
Halbinsel üblich. In Zahlen übersetzt heißt das: hundertsechzigtausend Personen, die in
einer Masse von 20 Millionen Individuen praktisch verschwinden.[ 4 ]
Tatsächlich wurde das Italienische als einzige der modernen Nationalsprachen
jahrhundertelang fast ausschließlich als Gelehrtensprache, als Amtssprache, als Sprache
für öffentliche Reden, als Justizsprache verwendet. Ein liturgisches, schwülstiges,
umständliches Konglomerat aus schwieriger Syntax, in dem es von Manierismen nur so
wimmelte. Es war also «steif». Deshalb konnte Luigi Settembrini, der neapolitanische
Schriftsteller und Patriot, schreiben: «Wie ihr wisst, tritt, wenn ein Volk Vaterland und
Freiheit verloren hat und über die ganze Welt verstreut ist, die Sprache an die Stelle des
Vaterlandes und alles anderen. … Ihr wisst, dass das so in Italien passiert ist, und dass das
erste, was wir wollten, als wir uns nach drei Jahrhunderten Sklaverei wieder als Italiener
fühlten, unsere gemeinsame Sprache war.»[ 5 ] Settembrini war übrigens eines der Opfer
der bourbonischen Unterdrückung nach 1848 und ist nur um ein Haar der Todesstrafe
entgangen.[ 6 ]
Im neugeborenen Königreich Italien begann sich auf allen Ebenen rasch das Bild eines von
«schändlichen Lastern» und «tiefer Korruption» befallenen Volkes des Südens zu
verbreiten, von der Korrespondenz des Conte Cavour, den das Thema nicht losließ, bis
zum Meinungstrend, der sich in der neuen Bourgeoisie ausbildete. Definitiv kritisch wurde
die ohnehin schon prekäre Lage mit dem Vormarsch des Brigantentums. Neben der
«römischen Frage»,[ 7 ] also dem Fortbestehen eines Kirchenstaates, der sich inzwischen zu
 
 
 
 
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