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dann plötzlich und unerwartet auftaucht, um die Reichen zu berauben und das Geraubte
an die Armen zu verteilen.
In der Provence ist ein analoger Mythos verbreitet, auch hier zwischen Geschichte und
Legende, der sich auf die historische Figur des Gaspard de Besse gründet, so genannt nach
seinem Geburtsort, dem Dorf Besse-sur-Issole. Sein eigentlicher Name: Gaspard Bouis,
über den ein Distichon sagt: »Brigand pour la France, héros pour la Provence» («Für
Frankreich ein Brigant, für die Provence ein Held»), Nachdem er um 1775 in den
Sackgassen von Toulon eine Bande von Männern rekrutiert hat, die zu allem bereit sind,
wird Gaspard Bandit. Als Straßenräuber überfällt er die Kutschen der Reichen, vor allem
königliche Schatzbeamte und Ausländer, wechselt ständig sein Aussehen, ist bekannt für
seine Streiche und führt die Gendarmen an der Nase herum. Ein bewegtes Leben, das
schnell verbraucht ist. Von einem seiner eigenen Leute verraten, endet er mit einer
Schlinge um den Hals auf dem großen Platz von Aix-en-Provence, gemeinsam mit seinem
Stellvertreter Joseph Augias (einem unglücklichen entfernten Vorfahren des Autors dieses
Buches). Als die beiden zum Galgen hochsteigen, sind sie kaum über zwanzig.
Auch in Palermo gibt es einen solchen, wahrscheinlich sehr alten Mythos, der jedenfalls
spätestens seit dem 18. Jahrhundert verbreitet ist. Wir werden gleich darauf
zurückkommen. Zunächst wollen wir zu verstehen versuchen, warum der Mythos hier, im
Gegensatz zu England oder der Provence, so besondere, so nachhaltige Züge angenommen
hat.
Palermo, und Sizilien ganz allgemein, haben eine eigene Religiosität, in der die
Zurschaustellung von Schmerz und Tod eine große Bedeutung hat. 1957 schrieb Guido
Piovene in seinem unvergesslichen Viaggio in Italia (Reise in Italien) über einen seltsamen
Brauch in dieser «arabischen, barocken, düsteren, phantasieüberbordenden» Stadt:
Statt der Befana[ 4 ] sind hier die Toten die Überbringer der Geschenke [für die Kinder], und das Kind äußert
seine Wünsche, indem es an den verstorbenen Onkel, die Oma, den Vater schreibt. Diese schenken, außer dem
Spielzeug, bemalte Zuckerpuppen, von denen die Läden voll sind, Paladine, Feen, junge Amazonen auf
spanischen Schimmeln, die geknabbert werden, indem man Stück für Stück die Gliedmaßen abbricht.
 
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