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seiner Leser hatte daran je gezweifelt.
Ich kann ein Fazit versuchen, inwiefern diese beiden Romane, jenseits von jeder
literarischen Beurteilung - wie schon zu Beginn des Kapitels angedeutet - zwei
menschliche Typologien darstellen, also wahrheitsgetreu zwei unterschiedliche Arten
widerspiegeln, Italiener zu sein, zwei Kategorien, zwei Lebensarten, zwei Arten der
Konstruktion von Identität, der Beziehung zu den anderen und zum eigenen Land, zu
jenem von Asor Rosa erwähnten «Nationalpakt».
De Amicis hat die Piemonteser Bourgeoisie idealisiert und ihre Tugenden gepriesen.
D'Annunzio wollte einen Skandal provozieren und hat dabei schonungslos über die
römische Bourgeoisie hergezogen, dies aber mit einer solchen Bravour, dass er selbst die
vorhersehbaren Irritationen noch zusätzlich in Erfolgsmomente verwandelte. De Amicis
steht ganz offen zu seiner Geschichte, lässt sich von seinen eigenen Romanfiguren zu
Tränen rühren, lebt dasselbe Leben wie sie. D'Annunzio simuliert Abgeklärtheit, ironische
Distanz. Aber die ist vorgetäuscht, denn in Wahrheit lebt auch er in seinen Figuren, mit
gleicher Intensität, ist absorbiert von ihren Gemütszuständen und vermischt sie mit seinen
eigenen.
Wenn wir die beiden Romane heute aus der komfortablen Position der Nachgeborenen
betrachten, können wir sehr genau erkennen, welche menschlichen Typen in anderthalb
Jahrhunderten Nationalgeschichte aus den großen und kleinen Figuren, von denen diese
Romane bevölkert sind, hervorgegangen sind, sie nachgeahmt und übertroffen haben.
Aus dem Geist von Cuore stammen die guten Absichten, das politisch Korrekte, der
bürgerliche Fleiß: Leute, die sich mit dem zufrieden geben, was sie haben, die sich
treusorgend um ihre Familie kümmern und versuchen, schuldenfrei über den Monat zu
kommen. Alles in allem gute Menschen, manchmal ein wenig blutleer, in Wohnungen mit
sparsamer Beleuchtung und eingerichtet so gut es eben geht, mit dem Ausflug ans Meer,
den neuen Schuhen zu Weihnachten, dem Respekt vor den Behörden, der Furcht vor den
Mächtigen, der Mülltrennung als Beitrag zum Zusammenleben.
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