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Mann aus der Provinz dorthin kam. Das Szenario faszinierte und überwältigte ihn. Rom
brannte sich, so kann man sagen, in seine Haut ein, und durch sein Schreiben war er
imstande, eine verwandelte Stadt wiederzugeben, eine Mischung aus dem, was er gesehen
hatte, dem, was er sich hätte vorstellen können, und dem, was nie wirklich passiert war,
es sei denn, in seiner Phantasie. Er erzählt über den Adel und das Volk, die Sitten und die
Gebäude, Szenen und Figuren, zum Teil der Realität entnommen, zum Teil Erfindung und
dabei doch in gewisser Weise damit verbunden, was er um sich herum brodeln sah. Ein
geträumter Realismus, ein Gemälde mit unscharfen Umrissen, verzerrt durch ein
verwirrendes und doch wiedererkennbares Ideal.
D'Annunzio ist achtzehn Jahre alt und hat nach einigen Skandalen gerade mit
Auszeichnung das Gymnasium Cigognini in Prato abgeschlossen. Die Stadt schlägt den
jungen Dichter in seinen Bann, aber vielleicht sollte ich besser sein eigenes Prädikat
benutzen: sie betört ihn. Er schaut sich um, wenn er aus seiner bescheidenen Behausung in
der Via Borgogna 12 heraustritt, und es kommt ihm vor, als sei alles schön, was er sieht,
und würdig, erzählt zu werden. Er schreibt sich an der Literaturwissenschaftlichen
Fakultät ein, die im Übrigen der Grund dafür war, dass ihn die Familie in die Hauptstadt
geschickt hatte, aber er geht kaum in die Vorlesungen. Stattdessen ist er ständiger Gast in
den Redaktionen einiger Zeitungen, in die ihm der Ruhm seiner Lyriksammlung Primo vere
(Erster Frühling, 1879) vorausgeeilt war, erschienen, als er noch aufs Gymnasium ging. Er
wird herzlich empfangen, dieser Achtzehnjährige scheint ganz aus «Locken und Lächeln»
zu bestehen. Der Dichter Edoardo Scarfoglio erinnert sich an seinen ersten Auftritt in der
Redaktion der Zeitschrift «Capitan Fracassa»:
Ich lag, daran erinnere ich mich sehr genau, ausgestreckt auf einer Bank … und gähnte vom Geschwätz der
vielen Leute; und beim ersten Anblick dieses kleinen Burschen mit dem Lockenkopf und den sanften weiblichen
Augen, der mich ansprach und selber sprach mit einem Tonfall, der ebenfalls sehr weiblich war, dass ich mich
seltsam beeindruckt aufraffte und aufsprang. Und bei allen, die ihn zu Gesicht bekamen, war diese Wirkung
gleich. Wir führten ihn in den Salon und alle Leute drängten sich um ihn. Nie zuvor habe ich dort, wo die
Bewunderung und die Neugier auf alles mit so leichter Gewalt ausbrachen, einen sonderbaren Schriftsteller auf
einer Welle des Erfolgs so triumphieren sehen, nie hat es einen so feierlichen Empfang gegeben.[ 12 ]
Die Residenzen und die Paläste, die Umgebung der Stadt, die Kutschen, die mondänen
Abende, die Menschen, alles begeistert ihn. Vor allem aber faszinieren ihn die Frauen, die
seine Phantasie und sein zur Sinnlichkeit neigendes Temperament entfachen. In einem der
 
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