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definiert ihn als «geistigen Rausch», es könnte sich aber um eine weit gefährlichere
Charakteristik handeln, denn viele Beobachter tendieren dazu, diesen Zustand - im
Gegensatz zur echten Trunkenheit, die früher oder später vergeht - als Dauerzustand zu
diagnostizieren. Nicht wenige sind so weit gegangen, ihn mit Leichtfertigkeit, der Vorliebe
für die glatte Oberfläche der Dinge und die angenehmen Seiten des Lebens gleichzusetzen,
auf die alles reduziert wird, einschließlich der Religion, des gesellschaftlichen Lebens, der
Zerstreuungen. Genau diese Art, sich die Zeit zu vertreiben, hat Federico Fellini in seinem
schon im Titel genialen Film festgehalten: La dolce vita.
Es sind dieselben Eigenschaften, die die Italiener im Laufe der Geschichte so oft haben
grausam werden lassen, jedoch nicht im gleichen Maße mutig, eher bereit zur Schlägerei
als zum Krieg, zum Aufruhr und zum Tumult als zur Revolution, zur schnellen, riskanten
Tat als zur zähen Hartnäckigkeit eines langen Kampfes. Es ist der von Giacomo Leopardi
so komprimierte Hang zur «reinen Vergnügung ohne jede geistige Anstrengung».
In einem Kapitel seines Romans Doktor Faustus spielt Thomas Mann mit der Figur des
Dichters, der die Geschichte erzählt, auf denselben Saiten und trifft eine klare
Unterscheidung zwischen dem italienischen Volk und dem deutschen: «Mit tiefer
Verblüffung nahmen wir die Landung amerikanischer und kanadischer Truppen an der
Südost-Küste Siziliens … zur Kenntnis.» Der Erzähler fährt fort und beteuert, außerdem
«mit einer Mischung aus Schrecken und Neid» erfahren zu haben, dass sich die Italiener
als Folge einer Reihe «skandalöser Niederlagen und Verluste» ihres «großen Mannes»
entledigt hätten, «um etwas später der Welt das zu gewähren, was man auch von uns
verlangt, aber worein zu willigen die tiefste Not uns viel zu heilig und teuer sein wird: die
unbedingte Übergabe». Nach dieser Vorrede folgt die Schlussfolgerung, die erklärt,
warum, Thomas Mann zufolge, die Italiener das haben tun können, wozu die Deutschen
«weder im guten noch im schlechten Sinne»[ 11 ] fähig wären:
Ja, wir sind ein gänzlich verschiedenes, dem Nüchtern-Üblichen widersprechendes Volk von mächtig tragischer
Seele, und unsere Liebe gehört dem Schicksal, jedem Schicksal, wenn es nur eines ist, sei es auch der den
Himmel mit Götterdämmerungsröte entzündende Untergang.[ 12 ]
Eben diese tragische Dimension ist es, die in der Geschichte der Italiener gefehlt hat, und
zwar nicht, weil wir keine echten und wahren Tragödien erlebt hätten - ziemlich viele
 
 
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