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außerordentlichen Bühnenarchitektur aus Natur und Kultur empfunden. Unter den
hundert möglichen Beispielen für das verklärte Bild der italienischen Landschaft braucht
man nur an die Gemälde von Jean-Baptiste Camille Corot zu denken, in denen eine
zugleich üppige und herbe Natur eine x-beliebige imposante Ruine aus dem klassischen
Zeitalter zum Hintergrund hat. Es sind die Mauern und die Bögen, die Säulen, die
Standbilder und die Türme, von denen Leopardi spricht, die aber nichts mehr mit dem
alten «Ruhm» zu tun haben, dem sie ihre Entstehung verdanken.[ 9 ] Mehr als ein
Jahrhundert lang ist es nur dies, nichts anderes, was die Augen des fremden Besuchers
von Italien wahrzunehmen imstande sind.
Im Übrigen hat selbst Marcel Proust bei seiner Rückkehr aus Italien geschrieben: «[Das]
wahre Land der Barbaren ist nicht das, welches die Kunst nie kennengelernt hat, sondern
das, welches, übersät von Meisterwerken, diese weder zu schätzen noch zu bewahren
weiß.» Das ist zwar eine andere Perspektive, dennoch wird hier dasselbe, unzählige Male
in Sachbüchern und in der Belletristik geäußerte Urteil wieder aufgegriffen.
Marie-Henri Beyle, wie Stendhal eigentlich hieß, vertieft diese Diagnose in einem
Eintrag seiner Passeggiate romane (Römische Spaziergänge), indem er einen der möglichen
Gründe für diese Unzulänglichkeit identifiziert. Er schreibt:
[Wir trafen] eben zwei junge Römer mit ihren Geliebten und deren Familien, die auf einem Karren saßen und
von einer Vergnügungspartie auf dem Monte Testaccio zurückkehrten. Sie sangen, gestikulierten und waren
wie toll, Männer und Weiber; es war keine leibliche Betrunkenheit, aber der geistige Rausch kann nicht weiter
gehen.[ 10 ]
«Geistiger Rausch» - die italienische Fassung geht mit der Übersetzung als «moralische
Trunkenheit» (ebrietà morale) sogar noch weiter -, das ist ein sehr hartes Urteil aus der
Feder eines Schriftstellers, der Italien eigentlich liebte, den leidenschaftlichen Geist seiner
Bewohner schätzte, in ihrem Verhalten die Eins-zu-eins-Umsetzung einer «romantischen»
Vision sah, in der für ihn selbst die Verbrechen und der Hang zum Intrigenspiel aufgingen,
zu denen die Italiener zu neigen schienen. Der Anblick dieser beiden von unbändiger
Fröhlichkeit gepackten jungen Paare lässt ihn ein messerscharfes Urteil fällen. Seine
unmittelbare Reaktion erfasst den beklagenswürdigsten, den primitivsten Aspekt der
italienischen Seele, die nicht unerhebliche Ursache für viele ihrer Katastrophen. Stendhal
 
 
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