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XI. LA SERENISSIMA
Shylock und die Erfindung des Ghettos
Diese Geschichte am Schluss des Buches beginnt mit einer Persönlichkeit nicht aus der
Realität, sondern aus der Phantasie. Ein Mann, nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus
Gefühlen und Leidenschaften, der ursprünglich aus einer Novelle des 16. Jahrhunderts
von Giovanni Fiorentino stammt, weiterentwickelt von einem der größten Dichter der
Menschheit, vielleicht dem größten, William Shakespeare. In seiner Tragödie Der
Kaufmann von Venedig sticht die Figur des Shylock hervor, der Jude, Geschäftsführer eines
Pfandhauses, der zu korrekten Zinssätzen Geld verleiht. Etwas anderes könnte er auch gar
nicht tun, weil die Gesetze der Stadt ihm nur dies erlauben. Im Falle eines Kredits für den
Edelmann Bassiano, als dessen Bürge Antonio (der «Kaufmann» aus dem Titel) auftritt,
fordert er bei Nichterfüllung des Vertrags nicht die üblichen Zinsen, sondern ein Pfund
Fleisch aus Antonios Körper. Shylock hegt Antonio gegenüber eine große Abneigung, die
mit der Zeit in echten Hass umgeschlagen ist. An einem bestimmten Punkt (I, 3) wird er
sagen: «Ihr scheltet mich abtrünnig, einen Bluthund …, nun zeigt es sich, dass ihr mich
braucht.»[ 1 ] In Shakespeares Drama passiert eine ganze Menge, es sind die
verschiedensten Handlungsstränge miteinander verflochten, im Fokus der Tragödie aber
bleibt dieser Hass, der im berühmten Verteidigungsmonolog des III. Aktes explodiert. Eine
Schmährede und ein Bekenntnis, denn Shylock öffnet seine Seele, in der Gefühle und
Leidenschaften kochen, die seine grausame Forderung erklären:
Er hat mich beschimpft, mir 'ne halbe Million gehindert; meinen Verlust belacht, meinen Gewinn bespottet,
mein Volk geschmäht, meinen Handel gekreuzt, meine Freunde verleitet, meine Feinde gehetzt. Und was hat er
für Grund! Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge,
Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben
Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und
Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr
uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen? Sind wir euch in allen
Dingen ähnlich, so wollen wir's euch auch darin gleich tun.[ 2 ]
Hier spricht ein zutiefst gekränkter Mann, der die Gründe seines Grolls regelrecht
 
 
 
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