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eine zwar plausible Vermutung, gleichzeitig aber ohne jede Bedeutung, denn was wirklich
zählte, war die starke spirituelle Bindung zwischen den beiden. Als Vittoria am
25. Februar 1547 mit nur sechsundfünfzig Jahren starb, verabschiedete sich Michelangelo
von ihrem Leichnam, so schreibt Ascanio Condivi in seiner Vita di Michelangelo Buonarroti
(1553), indem er tief bewegt davor niederkniete und ihr Antlitz küsste.[ 4 ]
Eine Frage aber, die sich aus der Gesamtheit dieser Jüngsten Gerichte beinahe zwingend
stellt, ist, wie sich die massive Ausbreitung des Themas erklärt. In Italien gibt es neben
den vielen Fresken und Mosaiken auch eine ganze Menge skulpturaler Darstellungen des
Jüngsten Gerichts, zum Beispiel zur Dekoration von Kanzeln, mit dem offensichtlichen
Zweck, während der Predigt im Kopf der Gläubigen die Vorstellung von einer drohenden
Strafe zu erzeugen. Es geht hier nicht um die künstlerische Qualität dieser Werke, die
häufig sehr gut, nicht selten exzellent, manchmal sogar großartig ist, sondern um den
praktischen oder, wenn man so will, pädagogischen Zweck solcher Darstellungen. Die
grausamen Qualen, zu denen die Sünder in alle Ewigkeit verdammt sind, sind denen nicht
unähnlich, die von christlichen Märtyrern erlitten oder von den Tribunalen der Inquisition
über Hexen und Ketzer verhängt wurden. In der römischen Kirche Santo Stefano Rotondo
kann man eine Reihe von Fresken des Niccolò il Pomarancio Circignani betrachten, die
Martyriums-Szenen darstellen. Das Folter-Repertoire dort hat eine große Bandbreite: Es
finden sich arme Kreaturen, die von Raubtieren zerfleischt, mit einem Stein am Hals
erstickt, geblendet, stranguliert, gegeißelt, verstümmelt, gesteinigt werden. Alles, was die
menschliche Grausamkeit sich hat ausdenken können, um Schmerz zuzufügen, ist hier zu
sehen. Sogar der Marquis de Sade, der von dem Thema besessen war, soll, als er diese
Szenen 1775 sah, erschüttert gewesen sein. Der Unterschied aber liegt darin, wie diese
Strafen von den Opfern angenommen werden. Auf den Gesichtern der Märtyrer scheint
unter Missachtung des Schmerzes Ekstase auf; auf den Gesichtern der Verdammten
dagegen erkennt man, wie im Gleichnis vom Königlichen Hochzeitsmahl nachzulesen ist,
«äußerste Finsternis, Heulen und Zähneknirschen» (Matthäus 22,13).
 
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