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gedruckt - ein geniales Programm, die Weltliteratur zu einem für alle bezahlbaren Preis
anzubieten, vergleichbar mit Reclams Universal-Bibliothek in Deutschland.
Im Kontext dieses kulturellen Klimas ist die Gründung des Piccolo Teatro von Mailand
zu sehen. Strehler schreibt: «Man muss den alten Plunder von der Bühne fegen, Texte
inszenieren, die von unserer Zeit sprechen, die Diktatur des grande attore, des
Starschauspielers durch die Regie ersetzen. Die Wiederentdeckung der Demokratie macht
die Befreiung des Theaters noch dringlicher.»[ 1 ]
Grassi hat das Konzept noch erweitert; nicht nur ein Regietheater sollte es sein, sondern
ein Theater «wie ein kollektives Bedürfnis, eine Notwendigkeit für jeden Bürger, eine
öffentliche Dienstleistung genau wie die Metro und die Feuerwehr».[ 2 ] Ein teatro stabile,
also ein öffentliches Theater mit fester Spielstätte, das bedeutete im Rahmen dieses
Konzepts nicht nur eine Gruppe von fest engagierten Schauspielern, ein Ensemble,
sondern einen Organismus, eine Ressource der Stadt, eine Einrichtung nicht zum
Geldverdienen, sondern um der Gemeinschaft das zu geben, was wie die Nahrungsmittel
zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehört.
Auf einen Schlag wurden damit zwei Systeme gekippt: das der Impresarios, für die das
Theater nichts als ein kommerzieller Betrieb wie jeder andere war, darauf angelegt, dem
Produzenten Gewinn einzubringen, und das der Stars, denn die Inszenierung war nun
nicht mehr Tummelplatz für die Launen des Hauptdarstellers, sondern die Umsetzung
eines künstlerischen Konzepts. Der Regie eben.
Zu einer gewissen Berühmtheit gelangte die Anekdote vom mattatore (so nannte man
die großen Theaterstars auch) des 19. Jahrhunderts, der kurz vor Beginn der Aufführung
in die Garderobe stürmt und den Technischen Direktor fragt: «Was wird heute Abend
gespielt?» - «Hamlet, Commendatore!» - «Gut, dann bring mir das schwarze Kostüm!» Ein
wenig bösartig, diese Anekdote, sie bringt aber eine Atmosphäre, eine Unsitte, eine Art,
Theater zu machen, auf den Punkt, die in Italien ungebrochen bis in die ersten Jahrzehnte
des 20. Jahrhunderts geherrscht hat.
In Mailand also beginnt man mit einem seiner Aufgabe bewussten, aufgeklärten
Theater, das die Kraft hat, der Realität einen echten Spiegel vorzuhalten; das nicht die
Erwartungshaltung des Publikums bedient, sondern seine Intelligenz und Sensibilität
 
 
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