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IX. GESICHTER MAILANDS
Der Krieg, der Wiederaufbau, der Boom
Man muss wissen, wie es in Mailand aussah, als die Stadt am 25. April 1945 befreit wurde
und der Krieg zu Ende war. Dafür reichen schon ein paar Zahlen: 60 Prozent der Häuser
war durch die Bombardierungen zerstört oder beschädigt; 1400 Gebäude, 250.000
Räumlichkeiten waren instandzusetzen; ein Großteil des Produktionssystems war
vernichtet oder nicht funktionsfähig; die größten Baudenkmäler beschädigt: das Castello
Sforzesco, die Scala, die Pinacoteca di Brera, das Ospedale Maggiore, die Galleria Vittorio
Emanuele II, der Palazzo delle Arti, in dem die Design-Triennale stattfindet. Die Stadt
hatte ihren Preis als Industriemetropole gezahlt und unter tragischen Bedingungen die
katastrophalen letzten Monate der nazi-faschistischen Okkupation erlebt: Schießereien
und Razzien, Hausdurchsuchungen und Beschlagnahme von Gütern durch echte und
falsche Agenten der Miliz, jeden Tag drei bis vier Partisanen-Exekutionen, Hunger.
Heute zu erzählen, was das für Monate, für Jahre waren, ist nicht leicht. Wenn man es
den Jüngeren zu erzählen versucht, droht etwas davon verloren zu gehen, wie schwer die
Umstände das Alltagsleben der Menschen belasteten. Eine sehr konkrete Last aus
Ungemach und Entbehrung, aber auch eine psychologische, denn es ist ein Albtraum, am
Morgen aus dem Haus zu gehen und nicht sicher zu sein, dass es abends noch steht. Man
muss sich vorstellen, was es für eine Familie, vor allem für die Kinder hieß, dass das Brot
schlecht und rationiert war und nur an drei Tagen pro Woche ausgeteilt wurde und dass es
an Grundnahrungsmitteln wie Milch, Reis, Butter, Zucker fehlte. Gelegentlich konnte man
auf dem Schwarzmarkt etwas ergattern, aber zu exorbitanten Preisen oder im Tausch
gegen kostbare Familienerbstücke. Die Nachricht, dass es in einem bestimmten Laden
oder in einem Hauseingang etwas zu kaufen gab, weckte geheime Gier und verbreitete
sich durch Flüsterpropaganda jedesmal wie ein Lauffeuer. Strom war auf wenige Stunden
beschränkt, ansonsten behalf man sich mit Kerzen, Laternen, stinkenden Acetylen-
Lampen, die immer wieder explodierten. Ich kann mich noch deutlich daran erinnern, wie
 
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