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allerdings im Vergleich zu den ersten Regeln so zurückgenommen waren, dass sie die
ursprünglichen Absichten nur zu einem Bruchteil widerspiegelten. Chiara Frugoni fasst die
Unterschiede so zusammen: «Ein Großteil der Zitate aus den Evangelien wurde gestrichen,
die Sprache klingt juristisch trocken und nicht mehr ausschweifend und poetisch. Keine
Rede ist mehr davon, Leprakranke zu pflegen, in strenger Armut zu leben, sich gegen
unwürdige Vorgesetzte auflehnen zu dürfen»[ 15 ] und so weiter. Franziskus hat seine
Anerkennung bekommen, steckt aber die Belastung, die die Aufweichung seiner
ursprünglichen Ordensregeln für ihn bedeutet, nicht so einfach weg. Einigen Biographen
zufolge beginnt 1223 die Phase «der großen Versuchung»: der Versuchung, alles
hinzuschmeißen, sich nicht mehr um die Gemeinschaft der Brüder zu kümmern, sich in
das einsame Zwiegespräch mit Gott zurückzuziehen.
Mit oder ohne Bulle, der Orden verbreitet sich jedenfalls. Die Franziskaner, wie sie
inzwischen allenthalben genannt werden, üben eine große Faszination aus, wo immer sie
auch hinkommen und predigen, und sie werben viele neue Mitglieder. Wahrscheinlich zu
viele, was sich daraus schließen lässt, dass sich im Inneren des Ordens alsbald
unterschiedliche Positionen herauszukristallisieren beginnen, «Strömungen» würden wir
das heute nennen. Gegen Ende seines Lebens ist Franziskus mehrfach gezwungen, den
Verfall des von ihm geschaffenen Ordens zu kritisieren, in dem sich - dessen ist er sich
bewusst - zu viele auseinanderlaufende Positionen formiert haben. Zahlenmäßig
erreichen die «Spiritualen» eine besondere Relevanz. Diese fordern, in Nachahmung von
Jesus Christus ein Leben in absoluter Armut und unter strenger Beachtung von Franziskus'
«Testament» zu führen. Vor allem in Südfrankreich (Provence) und in Mittelitalien,
namentlich in der Toskana, fand diese Gruppierung viel Zulauf. Ihre Fratres taten sich
durch flammende Predigten hervor, die sich nicht darauf beschränkten, unermüdlich auf
das Armutsideal hinzuweisen, sondern auch die unmittelbar bevorstehende Apokalypse
verkündeten, die der Korruption in der Kirche ein Ende setzen und ihre Erneuerung
herbeiführen werde.
Der Gegensatz zwischen der offiziellen Linie der päpstlichen Obrigkeit und diesen
Geboten, der immer latent gewesen war, explodiert neunzig Jahre nach Franziskus' Tod
mit dem Aufstieg von Johannes XII. zum Papstthron (dessen ziviler Name Jacques Duèze
 
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