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gang, sondern für einen gerechteren und effizienteren Staat. Das Feindbild sind
nicht einzelne Politiker, sondern die politische Klasse und ihre Institutionen.
Die brasilianische Krise ist eine Krise der Repräsentativität: Die Menschen
fühlen sich nicht von den gewählten Abgeordneten vertreten; Parteien, Kon-
gress und die Landes- und Gemeindeparlamente spiegeln nicht die brasiliani-
sche Gesellschaft wider. Die Revolte ist Ausdruck einer Modernisierungskrise:
Das politische System ist zwar formell demokratisch, aber die meisten ihrer Re-
präsentanten sind dem alten Klüngel-Denken der Elite verhaftet. Sie missbrau-
chen die demokratischen Institutionen, um ihre Privilegien abzusichern.
Die pauschale Kritik am »System« birgt aber auch eine Gefahr: Wenn der po-
litische Aufbruch nicht über Parteien oder andere demokratische Institutionen
kanalisiert wird, versandet er oder Demagogen missbrauchen die Bewegung.
Die Sehnsucht nach einem starken Mann, der mit der »schmutzigen Klasse«
der Politiker aufräumt, ist latent auch in Brasilien vorhanden; viele verklären
im Rückblick die »goldenen Jahre« der Militärdiktatur.
Ex-Präsident Lula glaubte anfangs, dass die Protestbewegung von der Rech-
ten gesteuert sei, später hat er seine Sicht differenziert und versucht, die Bewe-
gung zu vereinnahmen. Die Protestierenden seien die Kinder des Wirtschafts-
booms, den er initiiert habe. Alle Parteien müssten sich erneuern, auch die PT.
Auch der mächtige Fernsehsender TV Globo vollzog eine Kehrtwende: An-
fangs verteidigte er die brutale Vorgehensweise der Polizei und stellte die De-
monstranten als Chaoten dar. Als deutlich wurde, dass vor allem Bürgersöhne
und -töchter auf die Straße gingen und ihre Forderungen sehr zivil waren,
schwenkte der Sender um: Plötzlich verklärte er die Demonstrationen zu einer
Art familiärem Happening gegen die korrupte Regierung.
Die Demonstranten verziehen TV Globo diesen Opportunismus nicht: In São
Paulo vertrieben sie Reporter des Fernsehsenders, mehrere Übertragungswa-
gen gingen in Flammen auf. Die Globo-Leute nahmen daraufhin das Logo der
Fernsehanstalt von ihren Mikrofonen, so waren sie nicht so leicht als Globo-
Journalisten zu identifizieren.
Präsidentin Rousseff tat sich schwer mit einer Antwort auf die Proteste. Sie
war ebenso überrumpelt worden wie die gesamte politische Klasse. Tagelang
schwieg sie; die Demonstranten erkletterten unterdessen die Schüssel des Kon-
gresses in Brasília; einige Chaoten versuchten, das Außenministerium in Brand
zu stecken.
Schließlich rang sie sich zu einer landesweiten Fernsehansprache durch. Sie
habe die Stimme der Straße verstanden, erklärte sie und kündigte das größte
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