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seit den Straßenschlachten mit der Polizei in São Paulo als erprobtes Hausmit-
tel gegen Tränengas, viele hatten einige Flaschen im Rucksack. Sie fürchteten,
dass die Polizei so rabiat vorgehen würde wie vor dem Maracana-Stadion, als
unbeteiligte Passanten mit ihren Kindern in Panik vor den Gummigeschossen
und Tränengasschwaden der Polizei flüchteten.
Doch die Polizei hielt sich zurück - zu sehr, wie sogar viele Demonstranten
meinten: Einige hundert Randalierer stürmten den historischen Tiradentes-
Palast, das Landesparlament von Rio, verwüsteten den Eingangsbereich, war-
fen Molotow-Cocktails und steckten ein Auto in Brand. Etwa 20 Polizisten, die
sich in dem Gebäude verschanzt hatten, wurden verletzt, mehrere Bankfilialen
in der Nachbarschaft zertrümmert. Vor dem alten Kaiserpalast Paço Imperial
feuerten einige bedrängte Polizisten mit scharfer Munition. Zumeist schossen
sie in die Luft, ein Demonstrant wurde von einem Streifschuss verletzt.
Brasiliens Polizei war nicht vorbereitet auf den Ansturm der Demonstranten.
Sie ist von der Mentalität der Diktatur geprägt, mit demokratischen Protesten
wissen die Polizisten nicht umzugehen - entweder sie schlagen brutal über die
Stränge oder sie lassen den Demonstranten alles durchgehen.
Viele haben die Proteste in Brasilien mit den Revolten in der Türkei und in
Spanien verglichen. Aber nur die Organisationsform ist ähnlich: Auf allen Kon-
tinenten trommeln die Demonstranten die Massen via Facebook oder Twitter
zusammen. Ansonsten hat die brasilianische Protestbewegung wenig mit an-
deren Rebellionen gemeinsam: Sie richtet sich nicht gegen einen Herrscher,
wie in der Türkei, sie ist auch nicht kapitalismusfeindlich wie die Occupy-Be-
wegung. Während der Massendemonstrationen auf der Avenida Paulista, der
Prachtstraße von São Paulo, blieb der McDonald's die ganze Zeit geöffnet, die
Demonstranten stärkten sich mit Hamburgern und Coca-Cola. Früher wäre das
undenkbar gewesen; der Burgerbrater wäre als Symbol des amerikanischen Im-
perialismus und Kapitalismus als Erstes gestürmt worden.
Demonstranten, die ich in Rio getroffen habe, trugen Plakate gegen die über-
kommene Arbeitsgesetzgebung und die Quotenregelung für Afrobrasilianer
und andere Minderheiten - sie griffen damit Forderungen der politischen Op-
position und konservativer Intellektueller auf. Doch die Grundfarbe der Bewe-
gung war Weiß, sie richtete sich gegen alle Parteien. Als in São Paulo Demons-
tranten mit roten Fahnen auftauchten, wurden sie von der Mehrheit vertrieben.
In Brasilien protestieren nicht Jugendliche, die arbeitslos oder vom Abstieg
bedroht sind: Die meisten haben Jobs, viele sind in den vergangenen Jahren
aufgestiegen. Hier kämpft nicht eine Nation gegen den wirtschaftlichen Nieder-
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