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In den Metropolen des Riesenlandes war eine neue Generation herange-
wachsen, sie war mit Facebook und Internet groß geworden; sie brauchte keine
Parteien und Anführer, um sich zu organisieren. Die Demonstranten verabre-
deten sich über Facebook, innerhalb von Stunden waren Zehntausende auf den
Beinen. Sie protestierten nicht nur gegen die exorbitanten Ausgaben für die
WM, das war nur ein Nebenaspekt. In erster Linie richtete sich der Aufstand
gegen die politische Klasse und die weit verbreitete Korruption.
Zwei Tage nach meinem Brasília-Trip begleitete ich die erste große Demons-
tration in Rio de Janeiro. Etwa eine halbe Million Menschen zogen durch die
Avenida Rio Branco im Stadtzentrum. Die meisten waren Studenten, viele wa-
ren in Weiß gekleidet. Parteien waren verpönt; niemand schwenkte rote Fah-
nen, wie man sie früher immer sah. Unter den Hunderttausenden entdeckte ich
ein einziges Che-Guevara-T-Shirt - früher begleiteten Bilder des »ewigen Gu-
errilleros« jede Demonstration in Brasilien.
Es war, trotz einiger gewalttätiger Randalierer, ein Fest der Demokratie. Die
Medizinstudentin Tatiana Mendes, 24, und ihr Freund Jurival Alves, 25, wa-
ren zum ersten Mal auf einer Demonstration, so wie die meisten der rund hun-
derttausend vorwiegend jungen Leute, die sich vor der historischen Candelaria-
Kirche in Rios Innenstadt versammelt hatten. »Wir sind nicht gegen die WM«,
sagten sie. »Aber es muss Schluss sein mit der Korruption, der Geldverschwen-
dung, dem Bonzentum im Parlament. Die Regierung speist uns mit Brot und
Spielen ab, aber wir wollen bessere Schulen und bessere Krankenhäuser.«
Zusammen mit den Studenten gingen auch viele Gewerbetreibende auf die
Straße, Ladenbesitzer und Taxifahrer schlossen sich den Demonstrationen
spontan an. »Es fehlt nicht an Geld, wir zahlen Unsummen an Steuern«, klagte
Raoni Nery, 27, »aber wir bekommen keine Gegenleistung.«
Der Computerexperte betreibt eine kleine IT-Firma, er würde gern eine
Hilfskraft einstellen: »Aber das kann ich mir nicht leisten, weil die Sozialabga-
ben zu hoch sind. Unsere Arbeitsgesetzgebung ist total veraltet.« Es dauert Mo-
nate, eine Firma zu gründen; niemand durchschaut all die Vorschriften und Ge-
setze. Wer ein Geschäft aufmachen möchte, muss oft Schmiergelder an Inspek-
toren der Stadtverwaltung zahlen.
Großunternehmen verbuchen die Sonderausgaben für Transport, Bürokratie
und Korruption als »Custo Brasil«: Brasilien-Kosten.
Viele Demonstranten schwenkten die brasilianische Flagge, manche trugen
weiße Rosen oder Margeriten in der Hand, einige hatten sich die Gesichter mit
einem V bemalt - V für Victoria, Sieg, aber vor allem für Vinagre, Essig. Der gilt
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