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niemand hielt es für möglich, dass die Demonstranten ausgerechnet in Brasília
aufmarschieren würden.
Brasiliens Politiker schätzen ihre sterile Hauptstadt: Sie sind hier unter sich,
nur selten versammeln sich mehr als einige hundert Demonstranten auf der
kahlen Meile der Ministerien, um gegen Machtmissbrauch und Korruption zu
protestieren.
Wenn es in dem Riesenland überhaupt zu Massendemonstrationen kommt,
dann in den Megametropolen Rio oder São Paulo. Brasília ist eine Hauptstadt
ohne Volk; die Abgeordneten und Senatoren gehen isoliert vom wahren Leben
ihren Geschäften nach - oft nicht zum Wohle des Volkes, sondern ihrer eigenen
Kaste.
Während des Eröffnungsspiels des Confed-Cups bekamen die Herrschenden
einen kleinen Vorgeschmack, was in den kommenden Wochen auf sie zukom-
men würde.
Kurz bevor Neymar und Konsorten zum glorreichen Sieg über Japan antra-
ten, zogen Tränengasschwaden über den Vorplatz, einige gelb-grün gekleidete
Fußballfans kotzten sich auf dem Rasen aus, die berittene Polizei schoss mit
Gummikugeln, ihre Pferde scheuten wegen der Knallerei. »Keine Sorge, das
Tränengas hinterlässt keine bleibenden Schäden«, beruhigte ein Ansager via
Lautsprecher die Fußballfans, die in Panik über den Platz irrten. »Der Effekt
geht schnell vorbei.«
Das trifft vielleicht für das körperliche Unwohlsein zu, aber nicht für das po-
litische Unbehagen. Die Protestwelle wuchs zu einer Flut an; sie sprang von
Stadt zu Stadt. Längst ging es nicht mehr nur um die 20 Centavos teureren Bus-
fahrkarten, der Protest richtete sich auch gegen die überteuerten Stadien, die
Kungelei zwischen Regierenden und Fifa, die Kleptokraten in Kongress und Se-
nat. Präsidentin Dilma Rousseff und Fifa-Präsident Sepp Blatter wurden ausge-
pfiffen, als sie im Stadion von Brasília den Confederations-Cup eröffneten.
»Die WM repräsentiert uns nicht«, stand auf einem Schild, das eine Studen-
tin vor dem Eingang zum Stadion in die Höhe reckte, sie trug eine rote Clowns-
nase.
Als ich nach dem Spiel nach Rio zurückflog, wurde mir bewusst, dass ich ei-
nem historischen Moment beiwohnte. Der Riese Brasilien war erwacht - aber
anders, als sich die Politiker das erträumt hatten. Er protzte nicht mit Wirt-
schaftswachstum, sondern zeigte politisches Bewusstsein. Er ließ sich nicht län-
ger mit Brot und Spielen abspeisen, er machte seinem Zorn Luft.
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