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für den Spiegel interviewte, hatte ich aus der Gesprächsfassung, die ihm zur
Autorisierung vorgelegt wurde, einen Satz über Chávez herausgekürzt. Lula be-
stand darauf, dass er wieder eingefügt wurde. Er lautete: »Chávez ist der beste
Präsident Venezuelas der letzten 100 Jahre.« Chávez wurde nicht müde, dieses
Lob seines brasilianischen Freundes zu zitieren.
Lula rühmte sich, dass die Brasilianer unter seiner Regierung endlich den
»Straßenköterkomplex« überwunden hätten. So nannte der brasilianische
Schriftsteller und Dramaturg Nelson Rodrígues den tief verankerten Minder-
wertigkeitskomplex vieler Brasilianer. Er benutzte diesen Ausdruck, um die
Selbstzweifel Brasiliens nach der Niederlage gegen Uruguay im Endspiel der
Fußball-Weltmeisterschaft 1950 im Maracanã-Stadion von Rio zu beschreiben.
Der Straßenköterkomplex hat jedoch historische Wurzeln: Die meisten Bra-
silianer stammen von Indianern und schwarzen Sklaven ab, sie wurden deshalb
von der Elite verhöhnt. Auch europäische Intellektuelle sahen herablassend auf
die Bewohner der Neuen Welt. Diese hatten die Verachtung für ihre Herkunft
verinnerlicht.
Wenn Lula richtig in Fahrt kam, konterte er Kritik aus dem Establishment
mit ätzendem Spott. Während des Weltsozialforums in Belem im Jahr 2009 gif-
tete er, dass »blonde, blauäugige Banker« in den USA und Europa für die Welt-
finanzkrise verantwortlich seien. Der normalerweise warmherzige und um-
gängliche Lula reagierte empfindlich, wenn Kritiker auf seine proletarische
Herkunft anspielten oder sich über sein Privatleben ausließen. Das bekam mein
Kollege Larry Rohter von der New York Times zu spüren: Er hatte in einem Ar-
tikel insinuiert, dass Lula dem Alkohol verfallen sei, ohne diese Vorwürfe aus-
reichend zu belegen. Der Präsident wollte ihm daraufhin sein Journalistenvi-
sum entziehen, er fühlte sich in seinem Ehrgefühl verletzt.
Lula hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er gern Bier oder auch mal
einen Chachaça trinkt. Aber er war nie betrunken in der Öffentlichkeit zu sehen,
seine Trinkgewohnheiten haben sich nicht auf die Ausübung seines Amtes aus-
gewirkt. Deshalb war Rohters Story unangebracht. Der äußerlich so robuste Lu-
la hatte eine dünne Haut, wenn er persönlich angefeindet wurde.
Im Jahr 2006 wurde Lula wiedergewählt; seinen Sieg hatte er vor allem sei-
nem Charisma, dem Wirtschaftsaufschwung sowie seinen Sozialprogrammen
zu verdanken. Große Reformen waren nicht zu erwarten: Lula sonnte sich in
seinem Erfolg; die angekündigte Reform des politischen Systems blieb aus, Lu-
la hätte dafür einen Konflikt mit dem Kongress riskieren müssen. Er öffnete
die Staatskasse und schob mehrere Megaprojekte an: Er wollte eine überfällige
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