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men von rund dreihundert Euro, das reichte zum Überleben. Ihrer arbeitslosen
Tochter wurde die Staatshilfe vorübergehend gestrichen, weil sie nicht nachge-
wiesen hatte, dass ihr Sohn zur Schule ging. Als die Schule meldete, dass der
Junge wieder am Unterricht teilnahm, wurde die Auszahlung abermals freige-
geben.
Regierungsunabhängige Organisationen bestätigen, dass sich Missbrauch
und Korruption bei Bolsa Família in Grenzen halten. »Die Regierung hat ein en-
ges Netz der Kontrolle über das Land geworfen«, sagte mir Francisco Menezes,
Direktor des Instituts Ibase in Rio, eines angesehenen Thinktanks zur Elends-
bekämpfung und Autor einer Studie über Bolsa Família.
Dennoch bezweifeln Experten, dass Bolsa Família das Elend nachhaltig be-
kämpft. »Lula lässt Almosen verteilen, das ist Assistenzialismus«, sagte mir der
Kinderarzt Meraldo Zisman in Recife. »Hunger ist ein politisches Problem.«
Zisman ist Autor der aufsehenerregenden Studie Der Nordosten der Pygmä-
en . In dem Buch, das Ende der 1980er Jahre erschien, weist er nach, dass die
Kleinwüchsigkeit vieler Nordestinos, wie die Einwohner des Nordostens ge-
nannt werden, auf Mangelernährung zurückzuführen ist. »Seit 500 Jahren lei-
det der Nordosten unter Hungersnöten«, sagte Zisman. »Das hat eine Generati-
on von körperlich und geistig verkrüppelten Menschen heranwachsen lassen.«
In den 1990er Jahren wurden fast täglich unterernährte Babys in die staat-
lichen Krankenhäuser von Recife eingeliefert, bei vielen hinterließ der Hunger
bleibende Schäden im Gehirn.
Ende 1991 besuchte ich den Zuckerrohrschneider Amaro da Silva in seiner
Hütte 80 Kilometer südlich von Recife. Der 45 Jahre alte Mann war nur 1,35
Meter groß. »Wir verzichten oft auf das Mittagessen«, berichtete da Silva da-
mals. Frühstücken würde er dagegen immer: »Kaffee und ein Stück Zuckerrohr
zum Auslutschen.«
Umgerechnet 40 Euro verdiente da Silva monatlich, er verdingte sich als Ta-
gelöhner. An besonderen Tagen kaufte seine Frau Knochenabfälle, ihre zehn
Kinder saugten das Mark aus. In einer Kiste mästeten die Kleinen eine Echse
für den nächsten Feiertag.
19 Jahre später besuchte ich den einstigen Hungerleider erneut. Er war 65
Jahre alt und lebte seit fünf Jahren in einem Häuschen in dem Städtchen Ama-
rají südlich von Recife. Seine Frau war 14 Jahre zuvor gestorben.
Im Wohnzimmer flimmerte ein Fernseher, in der Küche stand ein strahlend
weißer neuer Kühlschrank. Da Silva wog jetzt 56 Kilo, zum Mittagessen gab es
Fleisch mit Reis und Bohnen.
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