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Allerdings stellte der harte Sanierungskurs Lula vor eine Zerreißprobe. Die
Kontrolle der Inflation hatte eine Schattenseite: Sie würgte die Konjunktur ab.
Zehntausende verloren ihren Job. Auch in den eigenen Reihen stieß Lulas Ross-
kur auf Kritik: Vizepräsident José Alencar, Eigentümer einer großen Textilfa-
brik, trat öffentlich für einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik ein.
Voreilig hatte Lula ein »Spektakel des Wachstums« in Aussicht gestellt, doch
das ließ auf sich warten. So schnell ließ sich die damals achtgrößte Volkswirt-
schaft der Erde nicht auf Touren bringen. Frühestens in anderthalb Jahren wür-
de die Wirtschaft nachhaltig wachsen, bekannte der damalige Präsidialamtsmi-
nister José Dirceu, der starke Mann in Lulas Regierung. Aber würde Lula so viel
Zeit haben? Seine Wirtschaftspolitik traf mitten ins Herz seiner Stammklientel.
Gewerkschaften und Staatsbedienstete liefen Sturm. Tausende Arbeitslose
aus den Favelas von São Paulo besetzten ein Gelände vor dem Volkswagen-
Werk, Staatsangestellte pfiffen Wirtschaftsminister Palocci aus. Auch die radi-
kale Landlosenbewegung Movimento Sem Terra (MST) regte sich wieder. Fast
jeden Tag stürmten ihre straff organisierten Kader neue Ländereien. Nach dem
Vorbild seines Idols Che Guevara rief MST-Chef João Pedro Stedile zum Krieg
gegen die Großgrundbesitzer auf, die ihrerseits bewaffnete Milizen aufstellten.
Doch Lula ließ sich nicht beirren. Mit eiserner Faust zog er die Reformen
durch, an denen sein Vorgänger gescheitert war. Gegen die Proteste von Staats-
angestellten verabschiedete die Regierung einen Gesetzesentwurf zur Reform
des Rentensystems. Die Proteste der Beamten spielte Lula herunter: Es seien ja
nicht die Ärmsten, die auf die Barrikaden gingen.
»Ich habe nicht das Recht zu scheitern«, hatte Lula bei seinem Amtsantritt
verkündet. Sein Scheitern wäre nicht nur ein Drama für Brasilien gewesen, es
hätte die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft für ganz Lateinamerika verdun-
kelt. Lula war ein Vorbild für die Massen. Sein Aufstieg schürte die Hoffnung,
dass sich Lateinamerikas ewiges Dilemma friedlich auflösen ließ: Umverteilung
ohne Gewalt, sozialer Fortschritt bei wirtschaftlicher Stabilität, Wachstum ohne
Inflation. Sein Lebensweg und sein Charisma machten ihn zur Identifikationsfi-
gur für Millionen.
Lula verströmt eine menschliche Wärme, wie sie den meisten Brasilianern ei-
gen ist. »Unser Beitrag zur Zivilisation ist es, der Welt die Herzlichkeit geschenkt
zu haben«, schrieb der Historiker Sérgio Buarque de Holanda 1936 in seinem
Werk Die Wurzeln Brasiliens . Die »cordialidade« ist natürlich und spontan. Sie
kennt keinen Feind, nur politische Gegner. Fremde missdeuten sie leicht als
Harmoniesucht. Doch Lula setzte sie bei Bedarf auch als Waffe ein. Großgrund-
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