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Noch heute verdüstert sich Lulas Miene, wenn man ihn auf seinen Vater an-
spricht. »Er hat nichts getaugt«, bekennt er ohne Umschweife. Aristides ver-
körperte alles, was Lula nicht sein wollte: Er konnte nicht lesen und schreiben,
dennoch kaufte er jeden Morgen eine Zeitung, um seine Kollegen zu beeindru-
cken. Oft hielt er sie verkehrt herum, doch wehe, seine Kinder machten sich
über ihn lustig: Er verprügelte sie mit einem Gummischlauch oder Holzknüp-
peln. Als er wieder einmal drohte, einen Sohn zu verprügeln, wurde es Dona
Lindu zu viel. Sie suchte eine leerstehende Hütte und zog mit ihren Kindern ein.
»Wir sind weg«, ließ sie ihrem Mann ausrichten. »Lass dich nie wieder bei mir
blicken.« Einmal kreuzte Aristides bei ihr auf, da versteckte sie sich. Er verfiel
dem Alkohol, ließ auch seine zweite Familie sitzen und endete als Stadtstrei-
cher.
Heute ist kaum zu ermessen, was es in den 1950er Jahren für eine bettelarme
Brasilianerin mit sieben Kindern bedeutete, ihren Mann zu verlassen. Die ältes-
ten Söhne suchten in den Mangrovensümpfen nach Krebsen, die Töchter gin-
gen mit zehn Jahren als Hausangestellte zu reichen Städtern. Der kleine Lula
verkaufte Erdnüsse auf den Docks von Santos. Dann zog die Familie nach São
Bernardo, dort machten neue Fabriken auf. Dona Lindu hauste mit Kindern
und Kusinen in dem Hinterzimmer einer Bar. Sie schliefen aneinanderge-
drängt, um sich vor der Kälte zu schützen, das Klo teilten sie sich mit den Knei-
pengästen. In der Regenzeit lief ihre Hütte mit Wasser voll, mehrmals verloren
sie ihren gesamten Hausrat.
Doch in São Bernardo sah Dona Lindu erstmals eine Perspektive für ihre
Söhne. Auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz für ihren Jüngsten klap-
perte sie wochenlang alle Fabriken ab. Schließlich fand Lula Arbeit als Dreher
in der Metallfabrik Villares. Bei einem Arbeitsunfall an der Werkbank verlor er
den kleinen Finger seiner linken Hand.
Sein älterer Bruder Frei Chico, der für die verbotene Kommunistische Partei
agitierte, beschwatzte ihn, bis er in die Gewerkschaft eintrat. Eigentlich hatte er
mit Politik nichts im Sinn: Lula wollte nur eine Familie gründen und ein Häu-
schen bauen. »Mein Lebenstraum war es, Mechaniker zu werden«, bekannte er
einmal.
Seine erste Frau Lourdes, eine zarte Schönheit, starb an Gelbsucht, als sie im
achten Monat war. Die Ärzte hatten die Krankheit nicht rechtzeitig erkannt. Als
sie auf Drängen der Familie endlich ins Krankenhaus aufgenommen wurde, war
es zu spät. Nicht einmal einen Sarg stellte die Klinik. Als der verzweifelte Lula
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