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ten ist es das Größte, einen Job bei Ford oder VW zu ergattern. Die Löhne sind
höher als anderswo; die multinationalen Unternehmen gewähren Sozialleistun-
gen, von denen die Arbeiter in anderen Firmen träumen.
Metallarbeiter in São Bernardo, das bedeutet: ein kleines Häuschen, ein ge-
brauchter VW in der Garage, einmal im Jahr Urlaub am Strand von Santos und
ein Schrebergarten an der Represa Billings, einem riesigen Stausee. Dort grill-
te auch Lula jedes Wochenende, bevor er Präsident wurde. Die Teller spülte
er selbst, auch seine Socken und Unterhosen wusch er von eigener Hand. Eine
Hausangestellte, wie sie in den meisten brasilianischen Mittelschichtfamilien
selbstverständlich ist, gab es im Arbeiterhaushalt da Silva nie.
Es war immer der Wunsch von Dona Lindu, Lulas Mutter, dass ihr Jüngster
eines Tages an einer Drehbank in São Bernardo arbeiten würde. Zehn Kinder
hatte sie im Dürregürtel des Nordostens geboren, zwei starben kurz nach der
Geburt an Unterernährung. Die Familie trank aus demselben braunen Wasser-
loch wie ihre Tiere, sie ernährte sich von Maniokmehl und Bohnen. Reis war
eine Kostbarkeit, Rindfleisch schierer Luxus. Lulas ältester Bruder erlegte Koli-
bris mit dem Katapult. Sie spießten die Vögel auf und grillten sie, eine Delika-
tesse.
Vater Aristides war ein Trinker und Schläger. Irgendwann teilte er der Fa-
milie mit, dass er nach São Paulo ziehen würde, um Arbeit zu suchen. Er ver-
schwieg, dass er nicht allein ging: An der Straßenecke wartete die Geliebte, eine
Kusine seiner Frau. Dona Lindu blieb mit sieben Kindern in Pernambuco zu-
rück. Mit der »Anderen«, wie Lula sie nennt, gründete Aristides eine neue Fa-
milie. Insgesamt hat Lula 27 Geschwister, einige kennt er kaum.
Dona Lindu verkaufte ihre Habseligkeiten, nahm ihre Kinder bei der Hand
und erstand Plätze auf der Pritsche eines Lastwagens, der sie nach São Paulo
brachte. 13 Tage waren sie mit dem Pau-de-arara unterwegs, der »Papageien-
schaukel«, wie dieser Armentransport genannt wird. 40, 50 Passagiere dräng-
ten sich auf der Ladefläche des Lkws. »Wo ist mein Hund?« fragte Aristides als
Erstes, als Dona Lindu bei ihm vor der Tür stand. Seine Kinder interessierten
ihn nicht, nur der Köter, den Dona Lindu zurücklassen musste.
Aristides hatte es zu etwas gebracht: Er war Ladearbeiter im Hafen und
konnte sich erstmals in seinem Leben ein Paar Schuhe leisten. Dona Lindu
durfte mit den Kindern zu ihm ziehen, für seine Zweitfrau mietete er eine Hütte
in der Nähe. Dennoch behandelte er seine Kinder aus erster Ehe zeitlebens
schlechter als die Söhne der »Anderen«.
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