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zahlen; auch einen Reisepass erhält man nur, wenn man nachweist, dass man
regelmäßig wählen geht.
Eigentlich sollte die Einführung der Wahlpflicht das demokratische Bewusst-
sein der Bürger stärken. In der Praxis verführt sie allerdings die Kandidaten
zum Stimmenkauf. Vor allem in den Armenvierteln, wo das Bildungsniveau
meist sehr niedrig ist, lassen sich die Wähler ihre Stimme von ruchlosen Poli-
tikern regelrecht abkaufen: Für eine Handvoll Essen, eine kostenlose Zahnbe-
handlung oder die Aussicht auf einen Job bei der Stadtverwaltung machen sie
ihr Kreuz an der gewünschten Stelle.
Beheben lassen sich diese Geburtskrankheiten des politischen Systems nur
mittels einer umfassenden Verfassungsreform. Die Präsidenten Lula und Car-
doso sprachen sich zwar beide für dieses Projekt aus. Doch in der Praxis haben
sie wenig unternommen, um die schönen Versprechen durchzusetzen. Sie
fürchteten den Widerstand der Abgeordneten. Im Kongress stößt eine Reform
des politischen Systems verständlicherweise auf wenig Gegenliebe: Die Abge-
ordneten profitieren vom herrschenden System, sie haben sich an das Scha-
chern um Posten und Vorteile gewöhnt. Lula entpuppte sich als Meister in der
Kunst des politischen Pferdehandels; er wusste so gut mit dem herrschenden
System umzugehen, dass sein Reformwillen einschlief.
Alle Präsidenten nutzen einen typisch brasilianischen Ausweg, um Blocka-
den im Kongress zu umgehen: Sie regieren vorwiegend mit provisorischen De-
kreten (Medidas Provisórias). Die müssen zwar theoretisch irgendwann vom
Kongress abgesegnet werden, doch bis zur Abstimmung vergehen meist Jahre
- wenn es überhaupt dazu kommt.
Präsident Sarney, dessen Amtszeit von 1985 bis Ende 1989 dauerte, war noch
mit ganz anderen Problemen konfrontiert: Die Inflationsspirale drehte sich im-
mer schneller. Gegen Ende seiner Amtszeit stiegen die Preise praktisch täglich,
zugleich verlor die Landeswährung rasant an Wert. Viele Brasilianer sehnten
sich nach einem Siegfried, der den »Drachen«, wie die Inflation gern dargestellt
wird, mit einem magischen Schlag besiegen würde.
Zugleich erstarkte die Linke. Bereits 1980 war eine neue politische Kraft ent-
standen, die imstande schien, das politische Establishment durchzurütteln: Ge-
werkschaftsführer, Anhänger der traditionellen Linken und Anführer religiöser
Basisgemeinden hatten in São Paulo die Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabal-
hadores) gegründet. Ihre Ideologie beruhte auf dem Sozialismus, aber sie war
weniger autoritär und populistisch ausgerichtet als traditionelle linke Parteien.
Gründungsmitglied Lula, der den Gewerkschaftsflügel anführte, war ein Prag-
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