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aber eine Rückkehr zur Diktatur galt als ausgeschlossen. Die Generäle hatten
ihren Kredit verspielt.
Der Kongress setzte eine verfassungsgebende Versammlung ein, und im Jahr
1988 wurde die neue Magna Carta verabschiedet. Sie ist bis heute gültig. Sie ist
fast so dick wie ein Telefonbuch, ihre Väter wollten es allen recht machen. In ih-
rem Überschwang legten die Parteien fast jedes Detail des öffentlichen Lebens
in der Verfassung fest, selbst die Organisationsform von Vereinen und die Höhe
der Zinsen wurden festgeschrieben. Jedem Brasilianer wird das Recht auf Ar-
beit und Wohlstand zugesprochen. Die Mängel dieser detailbesessenen Verfas-
sung zeigten sich erst im Lauf der Jahre, sie haben schwerwiegende Folgen für
die Regierungsfähigkeit und die politische Kultur. Brasilien behielt den tradi-
tionellen lateinamerikanischen Präsidentialismus mit einem Zweikammersys-
tem nach US-amerikanischem Vorbild bei, zugleich führte die Verfassung je-
doch Elemente des Parlamentarismus europäischen Ursprungs ein.
Brasiliens Präsidenten sind wie Adler, denen man die Flügel gestutzt hat. Auf
dem Papier stellen sie die stärkste und mächtigste Figur im politischen System
dar, doch in Wirklichkeit steht ihre Herrschaft auf tönernen Füßen. Die im Kon-
gress vertretenen Parteien können Regierungsinitiativen leicht blockieren. Es
gibt keinen Fraktionszwang, so dass die Regierung sich nie ihrer Mehrheit si-
cher sein kann und sich diese bei jeder Abstimmung neu suchen muss. Selbst
Regierungsabgeordnete stimmen oft gegen die Regierung, wenn ein Gesetzes-
entwurf ihren persönlichen oder politischen Interessen widerspricht.
Überdies gibt es auch keine Fünf-Prozent-Hürde wie im Bundestag. Das
führt zu einem Sammelsurium an Zwergparteien. Viele Abgeordnete wechseln
während einer Legislaturperiode die Partei, laufend entstehen neue Gruppie-
rungen. Zeitweise waren im brasilianischen Kongress 18 Parteien vertreten, das
macht das Regieren nahezu unmöglich.
Selbst Präsidenten, die eine breite Allianz zusammenzimmern, müssen sich
vor jeder Abstimmung ihre Unterstützung neu erkaufen. Dabei ist das Wort
kaufen wörtlich zu nehmen: Unter allen demokratischen Präsidenten kam es zu
Skandalen, weil die Anführer der Regierung im Kongress ihre Mehrheiten bei
wichtigen Abstimmungen mit Geld oder anderen »geldwerten« Vorteilen wie
Posten in Staatsunternehmen oder der Bürokratie zusammenkauften.
Die Verfassung von 1988 ist voll von guten Absichten, aber sie trägt in ihrem
Regulierungs- und Vorschriftenwahn zur Korrumpierung der politischen Kul-
tur bei: Sie hat das Wählen zur Pflicht erklärt. Wer nicht wählt, muss seine Ent-
haltung genau begründen können, andernfalls muss der Betroffene eine Strafe
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