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Staatskapitalismus voran, der das Land bis heute prägt: Nicht Wettbewerb und
Marktwirtschaft entscheiden oft über das Wohl und Wehe von Firmen und Un-
ternehmern, sondern ihre Nähe zur Regierung. Ausländische Unternehmen,
die sich in Brasilien ansiedeln wollen, unterschätzen oft, wie wichtig ein guter
Draht zur Regierungsbürokratie ist. Die großen brasilianischen Unternehmen
beschäftigen ganze Heerscharen von Anwälten und Lobbyisten, die die Bezie-
hungen zur Regierung pflegen - nicht immer mit legalen Mitteln.
Die zweite Regierungszeit Vargas' war von politischen Intrigen und Korrup-
tion gekennzeichnet. Der Präsident konspirierte gegen seinen Widersacher Car-
los Lacerda, einen Journalisten und ehemaligen Abgeordneten, schließlich ver-
übte der Chef von Vargas' Leibwache ein Attentat auf den Politiker, bei dem ein
Soldat der Luftwaffe ums Leben kam und Lacerda verletzt wurde. Die politische
Krise spitzte sich zu, schließlich forderten die Streitkräfte Vargas zum Rücktritt
auf. Er kam seiner Absetzung zuvor: Am Morgen des 24. August 1954 erschoss
er sich in seiner Wohnung im Regierungspalast. In einem handgeschriebenen
Abschiedsbrief orakelte er, dass »mächtige Interessen« für seinen Selbstmord
verantwortlich seien.
Vargas erhielt ein Staatsbegräbnis, Zehntausende gewährten ihm das letzte
Geleit. Der Linkspolitiker João Goulart, der Jahre später selbst zum Präsiden-
ten gewählt wurde, verlas eine erweiterte Fassung von Vargas' Abschiedsbrief
an seinem Grab. Sie endete mit dem berühmt gewordenen Ausruf: »Ich gebe
das Leben auf, um in die Geschichte einzugehen!« Über die Authentizität dieses
maschinengeschriebenen Dokuments streiten sich die Experten bis heute.
Kein anderer Präsident des 20. Jahrhunderts hat Brasilien so nachhaltig ge-
prägt wie Getúlio Vargas. Der »Vater der Armen« leitete die Modernisierung
ein, er begleitete die Verwandlung Brasiliens von einem feudalistischen Agrar-
staat zu einer urbanen Industriegesellschaft. Er begründete einen nationalisti-
schen Populismus, der Brasiliens Linke bis heute prägt. Arbeiterpräsident Luíz
Inácio Lula da Silva, der von 2002 bis 2010 regierte, erklärte Vargas zu seinem
Vorbild, sein Name schmückt Straßen, Plätze und staatliche Institutionen.
Für Brasilien hatte Vargas dieselbe Bedeutung wie der Caudillo Juan Domin-
go Perón in Argentinien, und wie Perón war er eine ambivalente und wider-
sprüchliche Persönlichkeit: Er repräsentierte den Aufstieg der urbanen Massen,
der Armen aus den Vororten, aber er war auch ein Autokrat, der seine Gegner
verfolgte und die Meinungsfreiheit unterdrückte. Er stillte die Sehnsucht nach
dem starken Mann, aber er verhinderte auch eine echte Demokratisierung.
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