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im Landesinneren: Überall im Land kam es zu Aufständen, die lokalen Herr-
schaftseliten kämpften erfolgreich für mehr Autonomie. São Paulo und Minas
Gerais waren jetzt die heimlichen Machtzentren, die wichtigsten Familienclans
der beiden Bundesstaaten wechselten sich an der Macht ab und setzten Präsi-
denten nach Belieben ein. Dieses Herrschaftsmodell wurde in Brasilien als »Po-
litik des Milchkaffees« (Política do Café com Leite) bekannt: São Paulo stand
für die Kaffeebarone, Minas Gerais war bekannt für seine Milchwirtschaft.
Die beiden Bundesstaaten bauten auch ihre Polizeieinheiten aus. Diese wur-
den fast so mächtig wie die nationalen Streitkräfte und untermauerten den
Machtanspruch der Gouverneure. Bis heute ist Brasiliens Polizei militärisch or-
ganisiert, nur die Kriminalpolizei (Polícia Civil) und die Bundespolizei (Polí-
cia Federal) unterstehen keiner militärischen Hierarchie. Die Militärpolizei von
Minas Gerais und São Paulo ist dagegen für ihren Korpsgeist berüchtigt, sie gilt
als besonders brutal.
Die Kaffeebarone investierten ihr Geld nicht nur in ihre Plantagen, sie halfen
auch beim Aufbau einer nationalen Industrie. Sie kauften oder gründeten Tex-
tilfabriken und Produktionsstätten für Waren des täglichen Bedarfs. Während
der internationale Handel infolge des Ersten Weltkriegs weitgehend zusam-
menbrach, entstand in Brasilien ein robuster Binnenmarkt. Die Nachfrage nach
Arbeitskräften löste neue Einwanderungswellen aus. Zwischen 1890 und 1930
wuchs die Bevölkerung Brasiliens über 160 Prozent auf 34 Millionen an.
Erst die weltweite Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre stoppte den Auf-
schwung. Der Kaffeeexport brach zusammen, weil die Käufer aus Europa und
den USA ausblieben. Zugleich nahmen die politischen Spannungen zu, nach-
dem die Elite von São Paulo den Pakt mit Minas Gerais aufgebrochen hatte:
Präsident Washington Luíz versuchte, einen weiteren »Paulista« als Nachfolger
einzusetzen, der den Kaffeebaronen freundlich gesinnt war. Minas Gerais
schloss daraufhin ein Bündnis mit anderen Bundesstaaten, die gegen die Vor-
herrschaft von São Paulo waren. Diese »Liberale Allianz« unterstützte Getúlio
Vargas als Präsidentschaftskandidat, den Gouverneur des südlichen Bundes-
staats Rio Grande do Sul.
Bei den Wahlen im April 1930 unterlag Vargas, der Urnengang war von
Fälschungen und Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet. Seine Anhänger fanden
sich mit der Niederlage nicht ab, sie gingen auf die Straße. Schließlich griff das
Militär ein. Die Streitkräfte setzten Washington Luíz ab und übertrugen die
Macht einer provisorischen Junta, die kurz darauf Vargas die Präsidentschaft
anbot. Der Mann aus dem Süden regierte bis 1945 als Diktator.
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