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Familien,
die
eine
Lebensversicherung
oder
langfristige
Anlagen
besaßen,
mussten mit ansehen, wie ihr Geld über Nacht an Wert verlor.«
Die Menschen vergessen auch schneller, so Abranches: »Brasilien hat ein
kurzes Gedächtnis, das steht in direktem Zusammenhang mit der mangelnden
Voraussicht. Weil wir nicht weit in die Zukunft blicken, erinnern wir uns auch
nicht lange zurück. Brasilien interessiert sich nicht sehr für seine Vergangen-
heit. Wir lassen unsere historischen Altstädte, Bauten und Denkmäler verkom-
men.«
Das hat allerdings auch einen sehr menschlichen Aspekt: Es trägt zur Le-
bensfreude bei, wenn man schnell vergisst. Die Menschen leben im Hier und
Jetzt; sie fragen nicht, woher du kommst oder was du machst. Brasilien ist wie
eine großherzige Mutter: Immer ist noch für einen mehr an ihrem Busen Platz,
alles wird verziehen und vergessen.
Ist das Land der Zukunft also in Wirklichkeit ein Land ohne Vergangenheit?
Ist die Bereitschaft zum Vergessen womöglich sogar eine Voraussetzung für ei-
ne menschlichere Gesellschaft? Ist Ungerechtigkeit leichter zu ertragen, wenn
man schneller vergisst?
Die Massendemonstrationen vom Juni 2013 geben eine klare Antwort: Eine
ganze Generation junger Brasilianer möchte nicht länger als freundliches und
feierfreudiges Fußballvolk wahrgenommen werden, das vor den riesigen Miss-
ständen im Land die Augen verschließt. Sie haben nicht vergessen, sie wollen
nicht länger als Statisten in einer Show auftreten, die nur der Bereicherung ei-
ner Minderheit dient.
Brasilien erlebt eine Zeitenwende: Auf dem langen Weg von der Sklaverei zur
Demokratie entdecken viele Brasilianer das Wir. Erstmals bildet sich ein Bür-
gertum, das diesen Namen auch verdient. Erstmals sind es die Bürger, die das
Gemeinwohl definieren, nicht eine Klasse Privilegierter.
Brasilien war immer ein Projektionsraum für die Sehnsüchte der Europäer,
Stefan Zweigs Buch Brasilien. Ein Land der Zukunft legt davon beredt Zeugnis
ab. Oft hat es diese Hoffnungen enttäuscht. Jetzt wird es diesem Klischee wo-
möglich erstmals gerecht, wenn auch anders als von den Mächtigen vorgese-
hen: nicht als Wirtschaftssupermacht und neuer Global Player, sondern als
Vorbild für bürgerliche Zivilcourage.
Die Probleme, welche die Brasilianer auf die Straße treiben, sind ja auch in
Europa wohlbekannt: der Verdruss über die politische Klasse, die Kluft zwi-
schen Volk und Volksvertretern.
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