Travel Reference
In-Depth Information
Allerdings standen sie vor einem Dilemma: Ihnen fehlten Arbeitskräfte. Bei
der Ankunft Cabrals lebten einige Millionen Indianer in Brasilien (die Schät-
zungen schwanken zwischen drei und acht Millionen), doch sie waren nicht in
Hochkulturen organisiert wie die Inkas, Mayas oder Azteken in den spanischen
Kolonien. Die meisten lebten verstreut als Jäger und Sammler, bauten Maniok
an und fischten. Sie leisteten zwar keinen großen Widerstand gegen die Erobe-
rer, aber sie eigneten sich nicht als Arbeitssklaven.
Die Ureinwohner dienten den weißen Invasoren auf andere Weise bei der
Kolonialisierung: Unter den portugiesischen Eroberern herrschte Frauenman-
gel; sie zeugten daher Nachkommen mit den Töchtern indianischer Kaziken,
um ihre Herrschaft abzusichern. Die Rassenmischung hat die Identität und das
Selbstverständnis der Brasilianer stärker geprägt als jeder andere Faktor, sie
sind stolz auf die bunte Palette an Hautfarben und Physiognomien in ihrem
Land. Wenn es eine Regenbogengesellschaft gibt, dann ist es Brasilien.
Aus eigener Kraft war die Krone des kleinen Portugals nicht in der Lage, die
Erschließung seiner riesigen Kolonie zu organisieren. Der König überließ die
Ausbeutung der Rohstoffe deshalb weitgehend Privatleuten, er übertrug ihnen
Ländereien zur Ausbeutung. Brasilien wurde in insgesamt zwölf Verwaltungs-
bezirke aufgeteilt, die der Krone unterstanden, sogenannte Capitanías. Diese
Handelsposten waren militärisch befestigt, sie bildeten das Rückgrat der Kolo-
nisierung. Zwei von ihnen erlangten herausragende Bedeutung bei der Besied-
lung und Erschließung des Landes: Pernambuco im Nordosten und São Vicente
im Südosten, das Kerngebiet des späteren Bundesstaats São Paulo.
Weil in Brasilien Arbeiter fehlten, knüpften die Kolonisatoren Kontakte nach
Afrika. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts gingen portugiesische Geschäftsleute vor
allem in Westafrika auf Sklavenjagd. 1538 wurde die erste Schiffsladung afrika-
nischer Sklaven in Brasilien registriert. Der Menschenhandel entwickelte sich
in den kommenden Jahrhunderten zu einem riesigen Geschäft: Über drei Mil-
lionen Afrikaner wurde nach Brasilien verschleppt, die meisten kamen aus Be-
nin, Nigeria und Angola.
Das Trauma dieser gigantischen Völkerverschleppung durchwirkt alle Be-
reiche des öffentlichen und privaten Lebens, es prägt Brasiliens Gesellschaft
bis heute. Rassismus, Elend, Gewalt und soziale Diskriminierung wurzeln zu
großen Teilen in der Sklavengesellschaft der Vergangenheit. Ohne die Sklaverei
hätte die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Brasiliens einen an-
deren Verlauf genommen. Zwangsarbeit trieb die Rohstoffzyklen an, die die Ko-
lonialwirtschaft bis ins 20. Jahrhundert beherrschten.
Search WWH ::




Custom Search