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früher nach Hause«, geht überhaupt nicht). Die meisten Brasilianer sind flei-
ßige Menschen, sie arbeiten bereitwillig bis in die Nacht, wenn es sein muss.
Aber nie würden sie auf das Mittagessen verzichten, es strukturiert ihren Tag.
Es ist der einzige Moment, wo Mamas Ordnung auch das Leben auf der Straße
bestimmt - Mittagessen im Kreise der Familie sind heilig.
Für das Gemeinwohl ist in diesem System kein Platz. Die Vorstellung, einen
anonymen Ort oder eine Vorschrift zum Wohle aller mit Unbekannten zu teilen
und zu respektieren, wirkt in dem Gegensatz von Haus und Straße befremdlich.
Jeder sorgt zunächst für sich und seine Familie, die Straße ist Niemandsland.
Ermessen lässt sich diese Haltung nur, wenn man versteht, wie traumatisch
sich die rapide Urbanisierung ausgewirkt hat. Bis zur Machtübernahme Getúlio
Vargas' war Brasilien kaum mehr als eine von Familien verwaltete Kaffeefarm
mit klar geregelten Hierarchien. Die Industrialisierung unter Vargas lockte Mil-
lionen vom Land in die Städte, weil sie dort auf einen Job in der Industrie und
bessere Schulen für ihre Kinder hofften. Die Eltern meiner brasilianischen Frau
sind in den 1950er Jahren aus einem Städtchen in Minas Gerais nach Rio ge-
zogen, ihre Werte haben sie auch dort bewahrt. Doch bei den folgenden Gene-
rationen sind diese aufgebrochen. »Viele Brasilianer sind wurzellos«, sagt der
Soziologe Sérgio Abranches. »Sie ziehen oft um, viele sind rasch sozial aufge-
stiegen. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass das Leben unvorhersehbar ist,
deshalb denken sie nur an das Heute. Mein Vater zum Beispiel war noch Anal-
phabet, er lebte auf dem Land. Ich bin nach São Paulo gegangen und Univer-
sitätsprofessor geworden; das ist ein sehr schneller, brüsker Wandel. In Euro-
pa gibt es das kaum. Gesellschaftlich führt es dazu, dass die Zukunft einerseits
als unvorhersehbar gilt, andererseits herrscht genereller Optimismus. Niemand
stellt kritische Fragen, niemand denkt darüber nach, welche Unglücke gesche-
hen könnten. Wir erwarten immer nur das Beste«.
Ich sprach mit Abranches wenige Tage nach einer Brandkatastrophe in einer
Diskothek in Südbrasilien im Januar 2013, über 250 zumeist junge Menschen
waren dabei ums Leben gekommen. Die Disko besaß keine Notausgänge, die
Feuerwehr hatte bei der Inspektion der Feuerschutzanlagen geschlampt, die
Besitzer hatten mehr Besucher zugelassen, als erlaubt waren. »Brasilianer legen
wenig Wert auf Vorsorge«, sagte Abranches. »Wir hegen ein historisches Miss-
trauen gegen die Idee des Sparens, der Voraussicht, der langfristigen Planung.
Das ist unter anderem eine Folge der Inflationskultur: Jahrzehntelang herrsch-
te in Brasilien Hochinflation, das Geld verlor praktisch täglich an Wert. Viele
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