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Stimme ist leise, sehr leise, er zwingt das Publikum zur Konzentration. Nie-
mand räuspert sich, niemand hüstelt, nicht einmal die Sessel knarren. Der To-
ningenieur kommt aus Japan, er registriert die feinste Nuance.
Nach zwei Stücken klingt die Stimme fester, seine Gitarre singt. Gilberto
spiele heute besser als vor dreißig Jahren, schwärmt ein Kritiker. Es ist wahr. Er
verzögert die Melodie, dehnt die Synkopen, singt scheinbar nuschelnd in sich
hinein und lässt doch jede Silbe genießerisch auf der Zunge zergehen. Es ist mu-
sikalischer Minimalismus auf höchstem Niveau, er kommuniziert allein mit sei-
ner Gitarre. Die Standards von Tom Jobim klingen wie neu, selbst dem Gassen-
hauer »Girl from Ipanema« gewinnt er neue Facetten ab.
Als doch ein Stuhl knarrt, zischt das Publikum, aber das ist nicht nötig. Der
Meister krempelt den rechten Ärmel auf und sagt sichtlich vergnügt: »Die Show
macht mir Spaß.« Beifall braust auf, das hatte wohl niemand erwartet. Als er
»Chega de Saudade« anstimmt, summen die ersten Zuschauer mit. Das Publi-
kum hält den Atem an, das hat es noch nie gegeben. Aber der alte Mann ermun-
tert alle zum Mitsingen. Brasilien feiert sich selbst, ein Raunen des Glücks geht
durch die Reihen.
Über eine halbe Stunde dauert die Zugabe, dann steigt der Star ins Auto und
ist weg. Die Zuschauer strömen wie benommen in die kühle Augustnacht. Ta-
xis hupen, das Theater ist gleißend erleuchtet, die Straßenkneipen sind voll. Es
duftet nach Meer und Parfum. Für einen Moment lässt sich erahnen, wie Rios
»Goldene Jahre« waren, als man zum Träumen nur einen Stuhl und eine Gitar-
re brauchte.
Der nostalgische Empfang für João Gilberto im Teatro Municipal kann aller-
dings über eines nicht hinwegtäuschen: Bossa Nova ist in Brasilien eine Min-
derheitenveranstaltung. Die meisten CDs verkaufen die Schnulzensänger der
»Música Sertaneja«, der brasilianischen Countrymusik. Sie treten zumeist im
Duo auf und füllen mühelos Fußballstadien oder Rodeo-Arenas. Sie heißen
»Chitãozinho & Chororo« oder »Leandro e Leonardo«. Der Film »Die zwei Söh-
ne von Francisco« (2005) erzählt die Geschichte von Zezé de Camargo und Lu-
ciano, einem der bekanntesten Duos. Mit dem Siegeszug der Sojapflanzer und
Rinderzüchter ist auch die Música Sertaneja bis in die Vororte der großen Städ-
te vorgedrungen. Ihre CDs verkaufen sie in Millionenauflagen, sie sichern der
brasilianischen Musikindustrie heute das Überleben.
In keiner anderen Kunst ist Brasilien so bei sich selbst wie in seiner Musik.
Jede Region hat ihren eigenen Rhythmus hervorgebracht: In Manaus und dem
westlichen Amazonasgebiet schwoft man beim »Boi«, der Musik des Amazo-
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