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Marcelo hatte sich im Alter von zehn Jahren bei den Drogenhändlern ver-
dingt. Er verkaufte Briefchen mit Kokain auf der Straße, mit elf stieg er zum
»Radio« auf. Von einem Hausdach auf dem Gipfel der Favela hielt er Ausschau
nach Eindringlingen. Verdächtige Fremde meldete er per Walkie-Talkie. Um
nicht einzuschlafen, schnupfte er Kokain. Seine Mutter, eine Hausangestellte,
hatte die Kontrolle über ihren Sohn verloren, seinen Vater kennt er nicht.
Mit zwölf wurde Marcelo »Soldat«. Er musste schwören, sich an das unge-
schriebene Gesetz des Terceiro Comando zu halten: niemanden in der Favela zu
bestehlen und nicht die Geliebte eines Freundes anzumachen.
Sein Lohn hatte sich vervielfacht, er bekam jetzt täglich etwa 90 Euro. Wäh-
rend seine Altersgenossen die Schulbank drückten, führte Marcelo das Leben
eines Favela-Königs. Er hatte mehrere Freundinnen, bei den Mädchen stehen
Lover aus den Drogengangs hoch im Kurs - sie können sich schicke Klamotten
leisten, machen Geschenke und werden respektiert. »Mein Leben drehte sich
um Sex, Drogen und Waffen.«
Irgendwann wäre er wohl zum »Gerente« aufgestiegen, dem Chef einer Dro-
genverkaufsstelle, wenn ihn die Polizei nicht geschnappt hätte: Ein »X9« hatte
ihn verpfiffen. Er wurde inhaftiert, aber auch in Gefangenschaft blieb er seiner
Gang treu. Während unseres Gesprächs formte er mit der rechten Hand ein »C«
und eine »III«, das Symbol des »Terceiro Comando«.
Die meisten Gefängnisse in Brasilien werden von Drogengangs kontrolliert.
In Rio setzt sich die Rivalität der drei Mafiaorganisationen in den Haftanstalten
fort: Jede Gang kontrolliert einen Zellentrakt.
São Paulo dagegen ist in der Hand einer einzigen, mächtigen Verbrecheror-
ganisation, dem »Primeiro Comando da Capital« (PCC). Marcos Marcola, der
inhaftierte Chef der Organisation, kommandierte per Handy von seiner Zelle
aus Anschläge auf Polizisten, Busse und öffentliche Einrichtungen, bei denen
im Jahr 2010 über 90 Menschen ums Leben kamen. Auch für eine Mordserie an
Polizisten in der Hafenstadt Santos im Jahr 2012 war das PCC verantwortlich.
In Rio machte die Regierung jahrelang keine Anstalten, das an die Drogen-
mafia verlorene Terrain zurückzuerobern. Die Polizei betrat die Favelas nur für
kurze Razzias, dabei kam es oft zu Schießereien, viele Unschuldige starben. Vie-
le Polizisten standen zudem auf der Lohnliste der Drogenhändler. Vor allem die
Militärpolizei, die dem Gouverneur untersteht, gilt als korrupt.
Doch dann bewarb sich die Stadt für die Ausrichtung der Olympischen Spiele
2016. Ohne ein nachhaltiges Konzept zur Bekämpfung der Kriminalität hätte
die Bewerbung keine Chance, das war den Verantwortlichen klar. Der Gouver-
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