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In Rio ist das nicht besonders schwierig. Man konnte hier schon immer gut
leben, wenn man auf der »richtigen« Seite wohnt. Die Strände, die Kneipen, die
Freunde konzentrieren sich in der Südzone. Wer die Gewalt nicht sehen möch-
te, bleibt am besten in diesem Teil der Stadt.
Das andere Rio beginnt jenseits der beiden Tunnel, die die Südzone mit dem
Zentrum und dem Norden verbinden. Doch manchmal holt einen die Gewalt
auch zuhause ein, im bukolischen Urca.
Ich beschäftigte jahrelang eine Hausangestellte, sie wohnte mit ihrem Mann
und ihren beiden Kindern bei mir. Ihre Tochter hieß Marília, sie war das Nest-
häkchen, ein aufgewecktes Mädchen. Der Name des Jungen war Mauricio, er
war ein Jahr älter und das Sorgenkind der Familie: Lernen fiel ihm schwer, als
Baby war ihm ein Unfall zugestoßen, er wirkte etwas zurückgeblieben. Die bei-
den tobten stundenlang in meinem Garten, sie gingen in Urca zur Schule, ih-
re Mutter war glücklich - in der Nordzone, wo sie aufgewachsen war, sind die
Schulen schlecht, die Kriminalität ist höher als im Süden der Stadt. Irgendwann
zog ich um, im neuen Haus war kein Platz für Hausangestellte. Neusa zog zu-
rück in die Nordzone, sie kam fortan dreimal pro Woche zum Saubermachen
und fuhr abends nach Hause - so wie Hunderttausende andere »Empregadas«
in Rio. Sie wohnte am Fuß einer Favela, ich half ihr beim Kauf des Hauses. Die
beiden Kinder sah ich nur noch selten. Marília kam ab und zu vorbei, von Mau-
ricio hörte ich nur über seine Mutter. Mit 17 wurde er zum ersten Mal Vater, so
wie viele Jungen aus den Armenvierteln, seine Freundin war 15.
Neusa war kurz angebunden, wenn ich sie nach Mauricio fragte. Es ginge ihm
gut, sagte sie, aber er habe die falschen Freunde. Dann wandte sie sich ab. Eines
Tages kam sie weinend zur Arbeit, Mauricio war nicht nach Hause gekommen.
»Ich weiß nicht mehr weiter«, sagte sie schluchzend. »Er ist bei den Drogen-
händlern, ich kann ihn nicht zuhause anbinden, er ist so rebellisch.«
Einige Wochen später erhielt sie einen anonymen Anruf. Deinen Sohn haben
sie verbrannt, oben auf dem Berg, sagte eine Männerstimme. Er hat seine Dro-
genschuld nicht bezahlt.
Zwischen den Resten verbrannter Autoreifen fand die Polizei ein paar ver-
kohlte Knochen und Teile eines Unterkiefers mit Zähnen. Die menschlichen
Überreste ließen sich nur anhand eines DNA-Tests identifizieren: Es war Mau-
ricio. Kurz darauf gab Neusa Hals über Kopf ihr Haus auf, die Drogenhändler
hatten sie bedroht, sie war in der Gegend nicht mehr sicher.
Daran musste ich denken, als ich in der Jugendhaftanstalt Marcelo S. inter-
viewte. Er war einer wie Maurício, aber er hatte überlebt.
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