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Höflich bot er einen Platz auf einem durchgesessenen Sofa an. Links und
rechts postierten sich einige Halbwüchsige mit Schnellfeuergewehren. Ein
Transvestit, offenbar der Geliebte des Drogenbosses, kam aus einem Hinter-
zimmer; seine wunde Nase triefte.
»Das sind meine Soldaten«, prahlte Luiz Carlos und zeigte auf die Halbstar-
ken. Die Jungen blickten kriegerisch, keiner war älter als 16. Für den Fotogra-
fen zogen sie sich Kapuzen über den Kopf, sie wollten nicht erkannt werden.
Nach dem Interview wollte ich noch zur Anwohnervereinigung. In jeder Fa-
vela gibt es so eine Organisation, ihr Präsident wird von den Bewohnern ge-
wählt. Sie ist für alle Alltagsprobleme auf dem Hügel zuständig. Ich wollte wis-
sen, wie der Präsident mit der Drogenmafia auskam, die die Favela beherrschte.
»Komm, ich bringe dich hin!«, sagte Luiz Carlos, der Drogenboss. Er führte
mich durchs Gassengewirr zum Büro der Organisation. Eine Sekretärin saß im
Vorzimmer und lackierte die Fingernägel, in der Ecke flimmerte ein Fernseher.
Luiz Carlos ging ins Büro des Präsidenten, setzte sich hinter den Schreibtisch
und fragte grinsend: »Was willst du wissen?« Der Drogenboss war gleichzeitig
Chef der Anwohnervereinigung. Damals waren viele Favela-Organisationen von
der Drogenmafia unterwandert.
Seither habe ich insgesamt bestimmt an die 50 Favelas besucht, Gangster
und Polizisten interviewt, Süchtige begleitet und Anwohner befragt. In São Pau-
lo habe ich 1997 eine der ersten großen Reportagen über den Siegeszug von
Crack recherchiert, in Rio ließ die Mafia damals diese Horrordroge nicht zu -
sie verdarb das Geschäft, weil die Süchtigen total die Kontrolle über sich verlo-
ren und oft aggressiv wurden.
Wie Zombies wankten Hunderte Crack-Süchtige nachts durch die Gassen
von Vila Guilherme, einem Mittelschichtsviertel von São Paulo. Sie priesen ge-
stohlene Autoradios an; für ein paar Real oder einen Brocken Crack hätten sie
ihre Mutter verkauft. Viele waren Jungen und Mädchen der Mittelschicht, sie
hatten mit Marihuana und Kokain angefangen, irgendwann waren sie bei Crack
und damit in der Gosse gelandet. Mittlerweile hat sich Crack im ganzen Land
wie eine Epidemie verbreitet, selbst in Kleinstädten gibt es oft ein »Cracolân-
dia«, wie die Treffpunkte der Süchtigen genannt werden.
Als Journalist muss man sich emotional gegen das Elend abschotten, sonst
kann man in einer Stadt wie Rio nicht auf Dauer leben. Wie alle Cariocas, wie
die Einwohner von Rio genannt werden, hatte auch ich die »geteilte Stadt« ver-
innerlicht. Nur zwingt mich mein Beruf oft, die Seite zu wechseln.
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