Travel Reference
In-Depth Information
Mit seiner Frau und zwei Kindern wohnt José Reinaldo in zwei winzigen
Zimmern plus Bad, eine Abseite hat er zur Küche umfunktioniert. Auf der Suche
nach Arbeit kam er vor zehn Jahren aus dem armen Nordosten nach Rio, jetzt
hat er einen Job in einer Putzkolonne. Im Monat bringt er 600 Real nach Hau-
se, 230 Euro. Damit kann er sich keine großen Sprünge leisten.
Aber wenigstens ist er Herr seiner vier Wände. Vor zwei Jahren hat er dieses
Häuschen in der Rocinha gekauft, der größten Favela von Rio. Ziemlich weit
oben, wo es billiger ist, Haus Nummer 20 in der Gasse zwölf, die von der Straße
eins abzweigt, es ist nicht leicht zu finden.
Etwa 6000 Euro hat er bezahlt, ein Schnäppchen für Rocinha- Verhältnisse.
Denn die Favela liegt in der reichen Südzone von Rio, wo es Arbeit gibt und der
Strand nah ist. José Reinaldo braucht nur 20 Minuten mit dem Bus zu seinem
Arbeitsplatz in einer Apartmentburg unten auf dem »Asphalt«, wie sie in der
Rocinha die Wohnviertel der Reichen nennen.
Sein Häuschen klebt auf Pfeilern an einem Felsen; die Wände sind feucht,
das Dach ist undicht, bei Regen läuft das Wasser an seiner Wohnzimmerwand
herunter. Ein neues Stockwerk, so hatte er sich ausgerechnet, würde gleich zwei
Probleme lösen: Der Wassereinbruch wäre gestoppt, und er würde mehr Platz
gewinnen.
Wäre da nicht Dona Angela. Sie ist klein und stämmig und geht keinem Streit
aus dem Weg; nicht mal ihr Mann Francisco wagt es, gegen sie aufzumucken.
»Nur über meine Leiche«, ruft sie José Reinaldo zu. Sie blickt von ihrer Mauer
auf ihn herab, ihre Augen blitzen: »Du willst mir den Eingang verbauen!«
José Reinaldo hat Respekt und auch ein wenig Angst vor Dona Angela; ein
Mannweib sei sie, sagt er, deshalb hat er Ayrton Evangelista gerufen, einen
Architekten der Stadtverwaltung, er soll ihm beistehen.
Ayrton, ein schlanker Mann mit melancholischem Blick, ist eine Autorität
in der Rocinha. Als Erstes schickt er José Reinaldo vom Dach, er will allein
mit Dona Angela reden. Der Nachbar dürfe ihren Eingang nicht versperren, be-
schwichtigt er sie, das werde er ihr schriftlich geben. Andererseits könne sie
ihm das Aufstocken nicht verbieten, zwei Etagen seien erlaubt. Murrend zieht
sie sich in ihr Haus zurück, der Konflikt ist fürs Erste entschärft. Ayrton klettert
über eine Stiege zu José Reinaldo in die Wohnung.
Er zeigt ihm, wie er seine Treppe anlegen muss, ohne dass Dona Angela ihren
Eingang verliert. »Versuche nicht, das neue Stockwerk größer zu machen als
dein Erdgeschoss«, ermahnt er den Jungen zum Abschied. »Damit würdest du
die Ventilation blockieren.«
Search WWH ::




Custom Search