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xer‹ dazu benutzen, alle Ausländer aus
der Hauptstadt zu verjagen. Zwar grif-
fen die Aufständischen im Juni 1900
auf Beijing über, töteten aber nicht die
Bewohner des Gesandtschaftsviertels,
sondern ungeliebte Mandarine, chine-
sische Christen und gewöhnliche chine-
sische Bürger. Und die Herren im Dip-
lomatenviertel fanden es plötzlich
schick, völlig unzureichend bewaff-
nete ›Boxer‹ zu jagen und zu erschie-
ßen, allen voran der Korrespondent
der Londoner Times, George Morrison.
Das Meisterstück aber lieferte der
frisch eingetroffene deutsche Gesand-
te, Klemens von Ketteler. Als sich ein
vermeintlicher ›Boxer‹ auf seinem Kar-
ren in der Nähe des Gesandtschaftsvier-
tels blicken ließ, ging der Baron mit sei-
nem bleibeschwerten Spazierstock auf
ihn los, der Mann floh. Im Karren ent-
deckte von Ketteler einen elfjährigen
Jungen, den er verprügelte und dann in
der Botschaft einsperren ließ. Dieser
Vorfall führte zu so heftigen Ausschrei-
tungen, dass Beijings Bürgermeister
persönlich bei dem Baron für die Frei-
lassung intervenierte - doch zu spät:
Von Ketteler hatte den Jungen in einem
Wutanfall erschossen. Auch sonst ver-
stand er es, die Krise anzuheizen. Am
liebsten veranstaltete er mit Soldaten
seiner Wachmannschaft Hetzjagden
auf ›Boxer‹ oder wen immer er dafür
hielt. Schließlich wurde er am 20. Juni
auf offener Straße in seiner Sänfte er-
schossen. Seltsamerweise war nieman-
dem aufgefallen, dass dieser Mord be-
reits am 16. Juni in der Londoner Times
und am folgenden Tag in vielen Zeitun-
gen gemeldet worden war - eine Panne
seitens der Verschwörer.
Träne nach, aber seine Ermordung löste
unter den in Beijing lebenden Auslän-
dern Panik aus. Von überall her ström-
ten sie ins Diplomatenviertel, um Schutz
vor den ›Boxern‹ zu suchen. Die be-
rühmte, fast zwei Monate andauernde
Belagerung durch die Aufständischen
begann. Doch auch hier fiel im allge-
meinen Durcheinander niemandem
auf, dass der ›Boxeraufstand‹ eigentlich
schon niedergeschlagen war. Die Bela-
gerung fand primär in den Köpfen der
Gesandtschaftsangehörigen statt, die
die Ereignisse später aufbauschten, um
ihre eigene peinliche und unrühmliche
Rolle während der Krise zu vertuschen
sowie vor allem die barbarische Plünde-
rung Beijings durch die alliierten Trup-
pen nicht in Frage stellen zu müssen, an
der sich die meisten Ausländer beteiligt
und hemmungslos bereichert hatten.
Auch Baron von Ketteler ging posthum
nicht leer aus: Ihm wurde im ›Boxerpro-
tokoll‹ ein Ehrenbogen über die Chong-
wenmen-Straße zugestanden, der nach
Deutschlands Niederlage im Ersten
Weltkrieg wieder abgerissen wurde.
Literaturtipp
Gerhard Seyfried: Gelber Wind
oder Der Aufstand der Boxer.
Frankfurt 2008. Gut recherchierter,
wortreicher und detailversessener,
manchmal sentimentaler, dann
schockierender, von Zeit zu Zeit
mit wunderbarem Lokalkolorit
aufwartender Historienroman zum
›Boxeraufstand‹ und zur deutschen
Kolonialgeschichte in China. Das
lesenswerte Werk führt tief in die
damaligen Ereignisse ein, bedient
sich aber, was die Belagerung
angeht, noch der mittlerweile als
Fälschung entlarvten gängigen
Sicht der Ereignisse.
Ein Ende mit Schrecken
Vermutlich weinte niemand im Ge-
sandtschaftsviertel von Ketteler eine
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