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gOttlOse natIOn: Jan hus -
Oder warum dIe tschechen hussIten sInd
„Wir mögen keine Kirchen und keine
Predigten. Kneipe und fette Wurst, da-
rauf stehen wir.“ In diesem ironischen
Satz des tschechischen Musikers Mi-
chael Kocáb steckt Wahres: Die vielen
majestätischen Kirchen im Stadtbild
Prags trügen. Anders als etwa Polen
oder die Slowakei gehört Tschechien
zu den am wenigsten religiösen Län-
dern Mitteleuropas. Fast zwei Drittel
der Tschechen gehören keiner Kirche
an. Das Trauma mit der Kirche ent-
stand durch die Ermordung von Jan
Hus. Die Tschechen warten bis heu-
te auf die Bitte um Verzeihung. Papst
Johannes Paul II. hat das Verbrechen
und die „nachfolgende Wunde“ ledig-
lich bedauert. Das aber ist den meis-
ten Tschechen zu wenig, denn ihr Jan
Hus starb „für die Wahrheit“, wie sie
sagen. Über die Kindheit des Man-
nes, den alle Schulkinder in Tschechi-
en kennen, weiß man nur wenig. Er
wurde um 1372 in Husinec, einem
südböhmischen Städtchen, geboren.
Sein Vater war wahrscheinlich Bauer.
1390 kam Hus nach Prag, um Theo-
logie und Philosophie zu studieren,
1400 wurde er zum Priester geweiht.
Beeinflusst von der radikalen Lehre
John Wyclifs von der Universität Ox-
ford und vom aufkommenden Nati-
onalbewusstsein an der Prager Uni-
versität, predigte Hus fortan in tsche-
chischer Sprache von der Kanzel der
Betlehemskapelle gegen die Verwelt-
lichung der Kirche. Er sah in der Bi-
bel die einzige Autorität in Glaubens-
fragen und in Jesus Christus das ein-
zige Oberhaupt der Kirche, an das
sich Christen direkt ohne Vermittlung
durch Priester wenden können.
1408 war Jan Hus in ganz Euro-
pa bekannt, Papst und Inquisition be-
schuldigten ihn der Ketzerei und ver-
trieben ihn aus Prag. Im Exil schrieb
er seine bedeutendsten Aufsätze und
predigte weiter. 1414 wurde er mit
dem Versprechen eines freien Geleits
zum Konstanzer Konzil gerufen. Hus
weigerte sich standhaft, seine The-
sen zu widerrufen und wurde am 6.
Juli 1415 auf dem Scheiterhaufen ver-
brannt. Die Nachricht von seinem Tod
rief in Prag gewaltige Proteste hervor
und führte zu den Hussitenkriegen
(1415-1422), die sich gegen König,
Kaiser, Kirche und Papst richteten.
Nach der Niederlage der tschechischen
Protestanten gegen die Habsburger im
Jahr 1620 erlitt das Land eine Zwangs-
rekatholisierung. Der Kampf gegen
den Katholizismus spielte eine wichtige
Rolle auch während der tschechischen
Nationalbewegung des 19. Jh. Präsi-
dent T. G. Masaryk berief sich 1914
auf die Hussiten als Vorbild. Für die
Tschechen ist Jan Hus ein Wegbereiter
der Nation, sein Märtyrertod schuf ei-
nen Opfermythos. Der Gedanke „Eu-
ropa hat uns verlassen“ kehrte immer
wieder zurück: 1938 beim Münchener
Abkommen oder 1968, nach der Zer-
schlagung des Prager Frühlings.
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