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die Brust gerissen oder auch von Busen zu Busen weitergereicht,
in umwerfender Herzlichkeit, die keinen Einspruch duldet. Sich
einen solchem Akt der Nächstenliebe zu entziehen gilt als extrem
unhölich und muss zumindest wortreich entschuldigt werden.
Herzlichkeit und Hölichkeit sind in Ungarn unzertrennlich - eine
irritierende Kombination für Angehörige fremder Nationen, die
gewohnt sind, das eine sauber vom anderen zu trennen. Vielleicht
liegt das daran, dass die magyarische Kultur im Kern eine bäuer-
liche ist - so wie auch die berühmtesten ihrer Komponisten, Béla
Bartók und Zoltán Kodály, sich die Anregungen zu ihren Sympho-
nien und Orchesterwerken auf dem Land holten, in der Volksmu-
sik und den orientalisch anmutenden Sprechgesängen. Ungarn ist
von der Modernisierung der Landwirtschaft erst nach dem Zwei-
ten Weltkrieg eingeholt worden, im Kommunismus. So blieb die
bäuerliche Sesshaftigkeit im Karpatenbecken der wichtigste Topos
eines Volkes, das bis um das Jahr 1000 noch auf dem Rücken der
Pferde lebte.
Folgerichtig beschränken sich Hölichkeit und Herzlichkeit kei-
nesfalls auf die bürgerliche Gesellschaft der Stadt, sondern neh-
men - je einfacher die Menschen werden - eher noch zu. Auf dem
Land ist der verbindliche Kanon der gegenseitigen Ehrerbietung
noch viel umfangreicher als in der Stadt, wo die Jungen anfangen,
einander zu duzen, unabhängig von Alter oder Geschlecht. Aber
die Kinder lernen immer noch überall, wie sie die Erwachsenen
zu grüßen haben - mit Handkuss natürlich, auch wenn der nur
ausgesprochen wird.
Ein umfangreiches Protokoll reguliert die gegenseitige Annäherung,
und wer dieses beherrscht, der weiß in jedem Moment genau, wo er
in der Beziehung steht. Das erleichtert vieles im gegenseitigen Um-
gang und ist bei Weitem eindeutiger als die britisch unverbindliche
Freundlichkeit oder die deutsche Unsicherheit zwischen »Servus«
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