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Küssen auf Ungarisch
Im Land der Herzlichkeit
Von Petra Thorbrietz
Das Plakat war riesig. Es schrie von den Wänden der Stadt. Zwei
alte Männer küssten sich. Mitten in Budapest. Sie pressten ihre
Münder aufeinander, die Lippen leicht geöffnet, die Köpfe zuein-
ander verschoben, damit die Brille des einen der Innigkeit des an-
deren keinen Abbruch tun konnte. Das Bild hatte etwas Obszönes
jenseits der Tatsache, dass dort ein intimer Akt zwischen zwei Män-
nern gezeigt wurde. Es war so aufdringlich wie ein Exhibitionist auf
einem Bahnhofsklo, so - demonstrativ.
Budapest 1990, kurz nach der Wende. »Tessék választani«, »Wählen
Sie«, stand unter dem Bild des riesenhaften Bruderkusses zwischen
Leonid Breschnew und Erich Honecker, und darunter war die De-
mokratie abgebildet - ein junges Paar, in einem zärtlichen Kuss ver-
fangen. Es war der erste Wahlgang der neu gegründeten Jungdemo-
kraten Fidesz. Ihr Vorsitzender Viktor Orbán hatte zwei Jahre zuvor
in einer spektakulären Grabrede den sowjetischen Besatzern die
Stirn geboten: »Es wird Zeit«, hatte der junge Jurist erklärt, als die
Gebeine von Imre Nagy, dem hingerichteten Ministerpräsidenten
des Aufstandes von 1956, umgebettet wurden: »Geht nach Hause!«
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