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um ihre Einschätzung der deutschen Seele bittet, dann benötigt man
das Glück, eine ehrliche Antwort zu bekommen. (Denn die Ehrlich-
keit wird nicht überall im gleichen Maße so hoch geschätzt wie in
Deutschland). Hat man aber dieses Glück, dann erfährt man, dass
wir einen großen Hang zur Direktheit, andere sagen auch Plumpheit
haben. »Hölichkeit muss ebenso gelernt werden wie Fechten«, sag-
te der französische Philosoph Alain einmal. Dann sollten wir noch
einen Crash-Kurs einlegen, bevor wir auf Reisen gehen. Wenn wir
Plumpsein schon können, dann bedürfen wir ein wenig mehr Raf-
inesse. Und die erste Übung für mehr davon ist die konventionel-
le Überlüssigkeitserklärung. Diese besteht schlicht darin, etwas für
überlüssig zu erklären, was nicht überlüssig ist. Wie bitte?
Ja, das hört sich zunächst merkwürdig an, aber höliche Menschen
tun das im Alltag eigentlich ständig. Wenn sich jemand bei ihnen
bedankt, dann sagen sie: »Keine Ursache«, »Kein Thema«, »Kein
Problem«, »Ist doch selbst verständlich«, »Gerne wieder«, »Das
wäre doch nicht nötig gewesen«, in Hamburg sagt man »Da nich
für« und im englischen »You're welcome«. Sie erklären den Dank
für überlüssig, obwohl er nicht überlüssig ist!
Die konventionelle Überlüssigkeitserklärung ist auch abseits des
Dankes fester Bestandteil einer hölichen Umgangskultur. Wenn
wir im Restaurant noch auf unser Essen warten müssen, während
die anderen bereits ihre dampfenden Teller vor sich haben, sagen
wir in der Regel: »Fangt doch ruhig schon an.« Und die anderen
sagen im besten Fall: »Nein, wir warten natürlich auf dich.« Nun
haben wir uns wechselseitig versichert, dass wir bereit sind, unsere
Interessen zugunsten der anderen zurückzustellen. Und so lautet
folgerichtig unser nächster Satz: »Fangt wirklich an, das Essen wird
doch sonst kalt und meins kommt bestimmt gleich.«
Die konventionelle Überlüssigkeitserklärung ist das Parfüm
für die Kultivierten. Es dient einzig und allein dem Zweck, sich
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