Travel Reference
In-Depth Information
dergreifen: Hygiene und - Scham. Für das Vereinigte Königreich
lässt sich diesbezüglich feststellen, dass selbstverständlich auch die
Upper Class den Aspekt der Hygiene nicht ignoriert: Man niest
zum Beispiel nicht einfach seinem Gegenüber ins Gesicht (oder
in den Nacken). Unabhängig von hygienischen Gesichtspunkten
jedoch steht demgegenüber bei der Middle Class sowohl aufgrund
ihrer andauernden Statusunsicherheit als auch infolge der in dieser
Sphäre größeren Prüderie der Aspekt der Scham viel mehr im Vor-
dergrund. Was unter anderem zur Folge hat, dass man sich mehr
entschuldigt. Worauf wir zurückkommen werden, nicht zuletzt,
weil es auch im Zusammenhang mit den Hygiene-Umgangsformen
in den Vereinigten Staaten von Amerika von Belang ist, wo es ja
keine eigentliche Upper Class gibt, die Prüderie der Mittelklasse
hingegen weit verbreitet ist.
Schamhaftigkeit und Euphemismen sind also grundsätzlich kein
Bestandteil des U-Benehmens und U-Codes. Nachdem Tante Mil-
lie das Zeitliche gesegnet hat, sagt man nicht: »She passed away«,
das wäre non-U, sondern schlicht: »She died«. Diese von der Mit-
telklasse vielleicht gelegentlich als herablassend oder ruppig emp-
fundene Ausdrucksweise ist eben darauf zurückzuführen, dass die
Upper Class gegen Scham auf erfrischende Art taub ist (ich sage
nur: Prince Harry!). Nancy Mitford weist überdies darauf hin, dass
es Vertreter der Upper Class gibt, die beispielsweise jede Art von
korrekter Grammatik als »middle class« abtun. In der Tat sind in
England die Umgangsform und auch die Sprache der Upper Class
viel regelloser, unvorhersehbarer und freier als die der Middle Class,
weil die dahinterstehende Attitüde mehr Selbstvertrauen hat. Die
Geisteshaltung der englischen Upper Class ist in dem Sinne aris-
tokratisch, als man sich einer (Führungs-)Verantwortung für die
Gesellschaft bewusst ist, sich für Geld nicht interessiert, der Welt
mit Distanz begegnet und persönliches Engagement nicht mit ma-
teriellen Anreizen verbindet. Ruinierte Adlige können ihr ganzes
Leben ehrenamtlich in wohltätigen Komitees wirken und dann see-
