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an die physischen und psychischen Grenzen, die diese Höhe jedem einzelnen aufzeigt.
Nicht einen einzigen Gedanken an den Tribut, den dieser Berg von den jährlich tausenden
Bergtouristen fordern könnte. Doch das Perverse ist, dass ich nun in sicherer Entfernung
und mit dem einzementierten Vorsatz, so schnell nicht wieder auf irgendeinen beknackten
Berg zu klettern, trotzdem schon diese unwirkliche Wirklichkeit vermisse. Diesen Nerven-
kitzel der Grenzerfahrung, den dieser Berg mir geschenkt hat. Dabei ist es weniger dieser
Berg, als vielmehr das damit verbundene Abenteuer, das den Reiz für mich ausmacht, das
Suchtpotenzial bietet und mir beim Anblick des Kibos durch die Lücken der Baumkronen
hindurch ein fettes Grinsen ins Gesicht zaubert.
Mittlerweile hat mich auch mein leicht dicklicher Freund wiederentdeckt. Nennt mich
ruhig paranoid, aber mal ehrlich, so ein riesiger Berg und dann rennt er samt Anhang mir
erst am Gipfel über den Weg, dann stehen deren Zelte gestern im Camp neben meinem und
jetzt rückt er mir auch nicht mehr von der Pelle. Das kann doch kein Zufall sein, oder? An-
scheinend war ich wieder mal zu freundlich. Ja, das wird es sein. Wie sich schnell herauss-
tellt, ist seine Frau gar nicht seine Frau. Er, Franzose, heißt David mit kurzem i, ist Wah-
lamerikaner und gerade auf Selbstfindungstrip. Interessant, wie ich finde. Und so steigen
wir gemeinsam weiter ab, während wir uns die Zeit mit allerhand oberflächlichem Ge-
sprächsstoff vertreiben.
GasperhatmiramerstenTagimRegenwalderzählt,dassdiesesGebietdesKilimandschar-
os oft feucht und wolkig ist. Außer heute, da scheint das nicht zuzutreffen, denn der Him-
mel ist strahlend blau und wolkenleer. Auch von Regen keine Spur, dafür muss es hier aber
in der letzten Zeit umso mehr geregnet haben. Die Böden sind völlig aufgeweicht und re-
gelrechte Schlammlöcher, die dafür sorgen, dass wir wie auf Eiern den Berg runterkraxeln.
Die Träger stört das wenig, als sie mit einem Affenzahn und meist nur mit einfachen Turn-
schuhen an uns vorbeischlittern. Sie schnaufen, schwitzen und pfeifen Lieder vor sich her.
Man sieht ihnen förmlich an, dass sie sich freuen, endlich vom Berg zu kommen. Dass sie
sich freuen, unversehrt zu ihren Familien und Freunden zurückzukehren.
Der schmale Trampelpfad trifft nach über dreieinhalb Stunden auf eine mit Schotter be-
festigte Forststraße. Jetzt kann es nicht mehr weit zum Gate sein. Die Zeit ist im Gespräch
rasendschnellvergangen.WährendmeinneuerKumpel,derWahlamerikaner,undichnoch
quatschen, donnert das Rettungsfahrzeug an uns vorbei, um einen weiteren Bergsteiger
vom Berg abzutransportieren. Bei diesem Anblick steigen in mir kurzfristig erneut die
miesen Bilder und Gefühle des Gipfeltages wie Magensäure die Speiseröhre hoch. Es ist
weniger als 24 Stunden her, aber dessen bitterer Beigeschmack liegt mir immer noch auf
der Zunge. Gut, dass mir diese unehrenhafte Jeep-Fahrt letztendlich erspart blieb. Gut, dass
ich als Herr meiner eigenen Sinne und auf meinen eigenen Beinen stehend, den Berg ver-
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