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in stürmischer See, den Weg. Ich steuere direkt darauf zu. Zwanzig Minuten später stehe
ich vor meinem Zelt, reiße den Reißverschluss auf und krieche sofort hinein. In Sekun-
denschnelle gebe ich dem Drang nach, mich hinzulegen. Fast zwölf Stunden hat mein
Körper unaufhaltsam danach geschrien. Er hat mich mit verführerischer Stimme förmlich
danach angebettelt. Angefleht, mich in den staubigen und kalten Boden des Kibos zu kni-
en und aufzugeben. Diesen Gefallen konnte ich und wollte ich ihm nicht tun. Umso be-
friedigender ist es jetzt für mich, mit ausgestreckten Beinen der Länge nach im Zelt zu
liegen. In meinen gesamten Klamotten und mit meinem Rucksack als Kopfkissen, liege
ich einfach nur regungslos da. Liege in meinem kalten Zelt auf meiner dünnen Isomatte.
Und dennoch möchte ich nach dem Desaster der letzten Stunden in diesem Moment nir-
gendwo anders lieber sein als hier in meinem Billigzelt. Ich bin erleichtert und beschließe,
dass mich hier heute keiner mehr freiwillig rausbekommt. Ich bin bis an meine persön-
lichen Grenzen gegangen, bloß um diese immer wieder zu verschieben. Immer wieder habe
ich von mir Leistung eingefordert, die vor diesem Trip undenkbar gewesen ist und sich
dennoch als möglich erwiesen hat. Bin Risiken eingegangen, die unkalkulierbar und völ-
lig verantwortungslos mir, aber auch meiner Familie gegenüber waren. Doch ich habe es
geschafft. Die Schmerzen werden bald vergessen sein, aber der Triumph über diesen Berg
und der Stolz, alle Widrigkeiten überwunden zu haben, die bleiben mir für immer. Wäre
ich umgedreht oder hätte ich mir helfen lassen müssen, ich glaube, ich könnte damit nicht
leben. Diese Niederlage wäre wie eine schlecht heilende, eiternde Wunde. Wäre wie ein
großer Splitter in meinem Kopf, der unaufhaltsam pocht. Der mich jedes Jahr an meinem
Geburtstag aufsNeueandenMomentderUmkehrerinnernwürde.Stattdessen weißichfür
den Rest meines Lebens, dass ich am neunten August um acht Uhr, somit genau an meinem
dreißigsten Geburtstag, mit einer Torte auf dem höchsten Punkt in Afrika gefeiert habe.
Und das kann mir keiner mehr nehmen. Aber ich kann genauso gut nachvollziehen, wenn
Bergsteiger umgedreht sind. Wenn ihnen die Risiken und die körperlichen Strapazen zu
groß geworden sind. Und es gehört wahrscheinlich viel mehr Mut und Rückgrat dazu, sich
seine Grenzen einzugestehen und umzudrehen, als blind und vom Ehrgeiz getrieben seinen
Weg Richtung Gipfel ohne Rücksicht auf Leib und Leben fortzusetzen. Doch ich persön-
lich konnte einfach nicht anders, obwohl ich zigmal vor genau dieser Entscheidung stand.
Eine Entscheidung, die nur jeder für sich allein treffen kann. Und auch jetzt in meinem
„Palastzelt“ fühle ich mich nicht recht als Sieger, dafür geht es mir viel zu schlecht. Überall
in meinem Körper rauscht, pocht, kribbelt oder sticht was. Ich bin unglaublich schwach.
Die Befürchtung, dass ich meinen Gipfeltraum im Nachhinein noch teuer bezahlen muss,
ist allgegenwärtig. Doch alles dominierend ist die drückende Müdigkeit. Ich will nur noch
schlafen. Und während mir der Wind draußen im Zusammenspiel mit der Zeltplane ein
leises Gutenachtliedchen pfeift, fallen mir sofort die tonnenschweren Augenlider zu.
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