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auf. Und zum ersten Mal spüre ich die Kälte an diesem Morgen. Spüre die minus fün-
fzehn Grad wie Stiche an den Händen. Nehme meine Umgebung aktiv wahr. Beobachte
Bergsteiger, wie sie glücklich und mit stolzgeschwellter Brust Erinnerungsfotos für zu
Hause schießen. Sehe die schneebedeckten Hänge auf schwarzer Lavaerde. Sehe die
Sonne, wie sie majestätisch über mir thront und ungehindert auf mich runter scheint. Sehe
denweißenWolkenteppichuntermir,derwieGrönlandsunendlicheEiswüstedenHorizont
berührt. Nur genießen kann ich das alles nicht. Und werde es wahrscheinlich auch niemals
wieder können.
In dieser Extremsituation werde ich auf einmal ziemlich sentimental. Ich muss an meine
Familie denken, die zu Hause in Deutschland auf mich wartet und nicht weiß, ob es mir
im fernen Afrika gut geht. Muss an meine Freunde denken, die ziemlich skeptisch auf
mein Spontanabenteuer reagiert haben und mir trotzdem die Daumen drücken. Muss aber
auch an all diejenigen Zweifler denken, die mich belächelt haben und mir frei ins Gesicht
gesagt haben, dass ich es sowieso nicht auf den Gipfel schaffen werde. Dass es unmög-
lich ist, so spontan, ohne jede Vorerfahrung und zudem noch mit Muskelverletzung. Und
jetzt sitze ich hier. Jetzt haben diese Arschlöcher etwa recht? Das kann nicht sein. Das
darf nicht sein. Diese Genugtuung gönne ich diesen bonierten Berufspessimisten nicht.
Niemals! Das Ganze macht mich unglaublich wütend. So wütend, dass ich meine Zähne
fest aufeinanderpresse und mir dabei fast die Unterlippe aufbeiße. Ich steigere mich im-
mer weiter in meine Wut rein. In Wut gegen diese Arschlöcher, den Berg, aber auch in
Wut gegen mich selbst. Gegen diese Arschlöcher, weil sie einfach nur sie sind. Gegen
mich selbst, weil ich es scheinbar nicht schaffe, diesen popligen Berg zu bezwingen. Weil
ich es nicht schaffe, mich selbst zu bezwingen. Gegen den Berg, weil dieser verdammte
Kilimandscharo, der übersetzt „Berg des bösen Geistes“ heißt, mich und meinen zerbrech-
lichen Hals so unermesslich fest im Griff hat. Dass er mich seit Tagen unentwegt peinigt.
Dass er mit jedem Meter, den ich weiter aufgestiegen bin, seinen Griff wie eine Schlinge
immer kräftiger zugezogen hat. So stark, dass ich mich jetzt nicht mehr bewegen kann
und wehrlos, stehend k. o., dabei hilflos zugucke, wie er zum finalen Schlag ausholt. Und
während ich mich diesen sinnlosen und trostlosen Gedanken hingebe, nehme ich leise wie
von Weitem meinen Guide Gasper wahr, der auf mich einredet. Dessen Stimme ähnlich
dem Motorengeräusch eines näherkommenden Autos immer lauter, immer deutlicher wird.
Mit seinem bröckelnden und rudimentären Englisch appelliert er gebetsmühlenartig ruhig,
aber bestimmt an mich: „Get up, my friend! If not, we have to carry you down from the
mountain. You can do it. Pole, Pole - Slowly!” Ja, verdammt nochmal, sage ich zu mir,
dieser kleine, schmalschulterige Afrikaner hat Recht. Du bist nicht nach Tansania gereist,
um dann an deinem 30sten Geburtstag nur 156 Höhenmeter unter dem Gipfel aufzugeben.
Jetzt kannst du dir beweisen, aus welchem Holz du wirklich geschnitzt bist. Koste es, was
es wolle. Stefan, heute ist dein Tag! Niemals könntest du damit leben, jetzt, so knapp vor
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