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den viel zitierten Ottonormalverbraucher, der Berge nur vom Discovery Channel oder einer
Tolkien-Romanverfilmung kennt oder den Wochenendwanderer, der gemütlich durch Wald
und Flur stolpert, spielt dieses Stück rauer Fels der Breakfast Wall am Barranco Camp in
einer anderen Liga. Für dieses Stück Kilimandscharo braucht der Normalo definitiv eine
gute Konstitution und feste Nerven im Gepäck. Gucke ich in die überanstrengten und ang-
stverzerrten Gesichter der anderen Hobbybergsteiger, die sich zusammen mit mir am Steil-
hang vergnügen, weiß ich, dass ich mit meiner Ansicht nicht ganz allein bin.
Doch eine Stunde später stehe ich oben. Schweißnass, aber erleichtert, es geschafft zu
haben, setze ich mich erst einmal. Meine Lunge pumpt und durch den Druck in meinen
Ohren höre ich wie mein Herz rast. Bei einigen hastigen Zügen aus meinem Trinkschlauch
komme ich langsam zur Ruhe. Und weil danach immer alles bekanntlich eh nur halb so
schlimm war, verbuche ich das Ganze unter Frühsport. Gesund und ausgeruht, hätte mir
diese kleine Klettereinlage möglicherweise viel Freude bereitet. Aber heute nicht. Und das,
obwohl ich sogar stolzer Besitzer eines Kletterscheins bin. Doch den Kibo interessiert das
alles nicht, er setzt andere Maßstäbe. Ich glaube, wenn dich die Höhe erwischt, gibt es für
dich kein Entkommen. Egal, wie lange du schon in den Bergen dieser Welt unterwegs bist,
egal wie viele Marathons du schon gelaufen bist und egal wie jung und dynamisch oder
alt und zerbrechlich du bist. Die Gewalt der Natur schlägt erbarmungslos zu. Sie lässt dir
nur zwei Möglichkeiten: kämpfe oder renne davon. Wenn du rennst, dann renn so schnell
du kannst und soweit du kannst. Denn die Höhe sitzt dir im Nacken. Und mit jedem Sch-
ritt, den du absteigst, die Überlegenheit der Natur anerkennst, umso mehr lockert sie ihren
festen Griff um deinen zerbrechlichen Hals. Du entscheidest dich dazu zu kämpfen? Gut.
Aber vergiss niemals, dass jeder große Kampf auch einen großen Verlierer hat. Ob Kampf
oder Flucht, der schmale Grat zwischen Vernunft und Unvernunft ist allgegenwärtig. Ein-
zig und allein die Entscheidung zählt. Und vor diese Wahl stellt dich der Kilimandscharo
mit jedem Schuhabdruck, den du ihm wie ein Brandeisen aufdrückst und damit laut in die
Welt schreist: „Sieh her, bis hier bin ich schon gekommen und den Rest von dir bezwinge
ich auch noch!“
Wow, was für bedeutungsschwere Gedanken so früh am Morgen. Und die auch noch von
einem Greenhorn im Bergsteigen. Sagen wir doch, dass der Sauerstoff- und der Schlafman-
gel daran schuld sind oder Hasani einfach etwas in mein Trinkwasser gemischt hat. Gasper
läuft derweil kreuz und quer über das kleine Plateau, klettert auf verschieden hohe Felsen,
immer auf der Suche nach einem guten Handyempfang. Unbeeindruckt vom nervösen
Gasper ist gerade ein winziger Vogel auf einem kleinen Steinmännchen gelandet. Er ähnelt
unserem deutschen Spatz und wird freiwillig unfreiwillig zu einem beliebten Fotomotiv
für ein Bergsteigerpärchen aus Österreich. Dabei findet er sich plötzlich wie ein Starlet auf
dem roten Teppich im Blitzlicht der Kameras wieder.
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