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Paul Cézanne und sein Berg
Am 15. Oktober 1906 wurde Paul Cézan-
ne (1839-1906) beim Malen auf einem
Hügel im Aixer Land von einem Unwetter
überrascht: Tief berührt vom kürzlichen
Tod seines Freundes Pissarro, verharrte er
mehrere Stunden im strömenden Regen
und wurde schließlich bewusstlos nach
Hause gebracht. Wenige Tage später, am
22.10.1906, starb der Vater der modernen
Malerei.
So eng verknüpft Cézannes Leben und
Tod mit seiner Heimatstadt Aix und de-
ren Umgebung waren, so prägte diese
Landschaft auch in hohem Maße das
Schaffen des Künstlers. Zwar ging er für
einige Zeit nach Paris, wo er sich den Im-
pressionisten anzunähern versuchte und
besondere Zuneigung zu Pissarro fasste.
Doch da sein Können dort verschmäht
wurde, zog er sich wieder nach Aix zu-
rück, wo er seinen ureigenen Stil fortent-
wickelte, der die Tore zur Malerei der Mo-
derne öffnen sollte.
Durch Cézannes Bilder ist die Monta-
gne Ste-Victoire, das Bergmassiv östlich
von Aix, weltberühmt geworden. Der
Künstler hat sie, in zahlreichen Variatio-
nen, in Serie gemalt. Dies diente nicht et-
wa als Vorarbeit für ein übergeordnetes
Werk, sondern etablierte eine selbststän-
dige Kunstrichtung, die untrennbar mit der
Fortentwicklung der Fotographie (1887 er-
fand Etienne-Jules Marey die Chronofoto-
grafie) und der Erfindung des Kinos (1895
durch die Brüder Lumière ) verbunden war.
Mittels der Serie fragt der Künstler immer
wieder neu nach dem Wesen seines Ob-
jektes, und er eröffnet gleichzeitig mit der
stets wechselnden Sichtweise eine neue
Konzeption des Raumes, ohne die Kubis-
mus, Mondrian oder Klee nicht denkbar
wären.
Betrachtet man die Wege, die Cézanne
bei der Motivsuche zurücklegte, so be-
merkt man ein systematisches Vorgehen,
eine regelrecht strategische Einkreisung
des Ste-Victoire-Massivs: Er malte im Sü-
den bis Gardanne und im Tal des Arc, im
Westen an verschiedenen Orten auf der
Straße nach Le Tholonet, im Norden auf
der Straße nach Vauvenargues. Pissarro
sagte über ihn zu Matisse: „Cézanne ist ein
Klassiker, (...) er malt sein ganzes Leben
dasselbe Bild.“ Und Matisse fügte hinzu:
„Er malt immer wieder dieselbe Land-
schaft, doch jedesmal ist sein Gefühl ein
anderes.“ In diesem Sinne sagte man oft
von ihm, dass er nicht malte, was er sah ,
sondern was er wusste , denn er kannte die
Ste-Victoire seit seiner frühesten Kindheit:
ihre Täler und Faltungen, die Wellenfolge
der Hügel bis zum letzten Ausläufer.
Hat man jedoch die Ste-Victoire erlebt,
so weiß man, dass sie ihr Gesicht mit dem
Lichtwechsel von einem auf den anderen
Augenblick ändert: von bleichem Grau bis
zu strahlendem Weiß, rosig oder bläulich
schimmernd, ockerbraun oder mattgrün,
tiefrot in der Abendsonne. Die Serie
Cézannes kleidete diese verschiedenen Er-
scheinungen in eine Form, wobei er in
deutlicher Abgrenzung von den Impres-
sionisten nicht dem Licht- und Schatten-
spiel, sondern den bis ins Kleinste aufei-
nander abgestimmten Farben den Vorzug
gab.
Man kann die Arbeitsorte des Künstlers
besuchen, doch Spuren wird man nicht
finden. Was bleibt, sind der Berg, das
Licht, der Mistral, die Farben, der brüske
Wechsel des Wetters, die Düfte der Land-
schaft, der Gesang der Zikaden. Um
Cézanne verstehen zu können, müssen
wir uns auf diesen Berg einlassen.
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