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sie mit allem, woran es in der Welt
krankte. Jede Krise, sei es in Armenien
oder in Algerien, zeichnete Falten in
ihr Gesicht. Mit den Flüchtlingen kam
die Armut, mit der Armut die Gewalt.
Und wo es ohnehin so viele Probleme
gab, da gedieh auch das mafiöse Ge-
flecht aus Geld und Macht, aus Politik
und Halbwelt zu voller Blüte. Machte
Marseille Schlagzeilen, dann meist un-
ter „Vermischtes“: Raubüberfälle,
Morde, Drogen, Organhandel und
einiges mehr. Und Frankreich seufzte
auf: Ach, man hatte es gewusst, was
soll von da unten schon kommen. Da-
bei war das bei Pagnol alles noch so
romantisch gewesen, diese kleinen
Gauner vom Alten Hafen, die sich
lamentierend, palavernd dem Mü-
ßiggang hingaben, gutmütige, auf-
schneiderische Choleriker allesamt.
Aus der Folklore war Ernst geworden:
In den 1970er und -80er Jahren ging
es mit dem Ruf der Stadt rapide berg-
ab. Marseille galt als der Hinterhof
Frankreichs. Und die lokale Baumafia
hatte sich selbst übertroffen, um es
auch so aussehen zu lassen. Mons-
tröse Wohnblocks, schneisenartige
Straßen.
Was blieb, war die Lage: Der Hafen
am tiefblauen Mittelmeer, felsige In-
seln, die im Sonnenlicht glitzern, karge
Bergketten, die sich wie zum Schutz
gegen das Umland erheben. Sieben
Hügel, wie in Rom, auf denen die
Stadt erbaut ist. Eine Kulisse wie ein
gewaltiges, naturgeschaffenes Amphi-
theater. Das erkannten schon die Grie-
chen, als sie vor mehr als zweieinhalb
Jahrtausenden hier ankamen, und das
erkennt heute noch jeder, der sich
Marseille vom Meer aus nähert.
Allerdings: Der Blick vom Meer, das
ist die Perspektive Afrikas. Frankreich
schaut aus der anderen Richtung, vom
Land her und von Norden. Vielleicht
konnte genau deshalb die Wiederent-
deckung Marseilles auch nicht auf
dem Seeweg stattfinden. Vielleicht
brauchte es deshalb Eisenbahnschie-
nen. Im Jahr 2001 wurde Marseille an
das Hochgeschwindigkeitsnetz an-
geschlossen. Seitdem benötigt der
TGV für die 750 Kilometer zwischen
Paris und dem Mittelmeer ganze drei
Stunden. Die Hauptstadt ist häufiger
mal zu Besuch, und seitdem kommt
Marseille immer mehr in Mode. Schon
sind ganze Firmen von Paris aus her-
gezogen, genießen für die Hälfte der
Kosten Lebensqualität und Klima am
Alten Hafen - und die alten Kunden in
der Hauptstadt werden einmal in der
Woche per Schnellzug besucht.
Parallel dazu läuft seit 1995 eine
gigantische Stadtsanierung. In die-
sem milliardenschweren, von der EU
unterstützen Projekt „Euroméditer-
ranée“ werden 480 Hektar neu gestal-
tet, darunter arme Viertel nördlich des
Alten Hafens und entlang der Küste.
Manche Wunden der vergangenen
Jahrzehnte werden damit geheilt.
Schon befürchten viele Kritiker, dass
Euroméditerranée nicht nur das Ge-
sicht der Stadt glättet, sondern auch
ihren Charakter. Und dass die Einzigar-
tigkeit verloren geht: Andere Städte
haben ein blitzsauberes, saniertes
Zentrum und Problembezirke irgend-
wo am Rand. Marseille nicht, jeden-
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