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Zu sehen bekamen sie Theaterauf-
führungen, darunter Satiren, aber auch
Striptease-Schauen. Dank der unge-
wöhnlich guten Akustik, die sich bis
heute trotz fehlendem Bühnendach
und mit einer nur unvollständig erhal-
tenen Szenenwand bewahrt hat, war
selbst von den schlechtesten Plätzen
aus jedes Wort zu verstehen.
Die antike Gesellschaft war der uns-
rigen übrigens nicht unähnlich, was
den Starkult betrifft. Im Theater von
Orange finden wir eingeritzte Namen
von Akteuren namens Nico Partheno-
paee und Nico Apolauste; und die At-
mosphäre einer Aufführung bei vollem
Haus dürfte neuzeitlichen Spektakeln
in nichts nachgestanden haben.
Das zeitlich nähere Mittelalter ist uns
in dieser Hinsicht viel ferner. So wun-
dert es nicht, dass im Zeichen der be-
ginnenden Christianisierung der römi-
sche Kulturtempel bald als Stätte von
Sünde und Ausschweifung verpönt
war. Über die Jahrhunderte kam es im-
mer wieder zu Zerstörungen, vor al-
lem während der Völkerwanderung.
Das 13. Jh. sah noch einmal Auffüh-
rungen im Theater, und zwar in Form
der Liebeshöfe mit Troubadour-Vorträ-
gen für die Fürsten von Orange.
Im 16. Jh. aber, als die Religionskrie-
ge die Stadt verheerten, erlitt das
Theater das gleiche Schicksal wie die
Arenen von Arles und Nîmes: Auf den
Zuschauerrängen bauten die Men-
schen, Schutz suchend, armselige
Häuschen und kleine Befestigungen.
Dass sie dafür nicht die Szenenwand
als Steinbruch missbrauchten, verdan-
ken wir vielleicht dem Mistral, den die
gewaltige Mauer doch immer noch
abhielt.
Erst im 19. Jh. entstand wieder ein
Bewusstsein für den Wert eines derar-
tigen Monuments. Von Forschern an-
geleitet, restaurierte Orange das Thea-
ter und übergab es 1869 wieder seiner
Bestimmung. Der Erfolg der nun be-
ginnenden Festspiele ließ die Stadt all-
sommerlich zu einem Treffpunkt der
Musikszene werden, vergleichbar et-
wa mit Salzburg oder Bayreuth. Die
„Chorégies“, 1902 so genannt, kon-
zentrierten sich zunächst auf ein klassi-
sches Repertoire griechisch-römischer
Stücke, was durchaus im Sinne der be-
teiligten Félibres um Frédéric Mistral
war. Seit 1970 ziehen die „Nouvelles
Chorégies“ vor allem Opernfreunde
an. Mehrmals trat etwa der Startenor
Luciano Pavarotti auf.
Diese Wiederbelebung einer zwei
Jahrtausende alten Stätte abendlän-
discher Kultur ist ein Geschenk für die
Stadt Orange, die vom weltweiten Re-
nommee ihrer Festspiele zehrt. Dass
eine solche Veranstaltung allein aber
kleinstädtische Enge und Borniertheit
nicht zu vertreiben vermag, zeigte sich
1995. Da empörte sich der halbe Ort,
weil ausländische Künstler nicht unter
der Schirmherrschaft des frisch ge-
wählten rechtsradikalen Bürgermeis-
ters singen wollten und einen Boykott
der Festspiele anzettelten. Wer eine
Wiege der Zivilisation zu sein bean-
sprucht, aber gleichwohl im politi-
schen Extremismus seine Führung
erblickt, der offenbart eben, dass es
ihm um Vermarktung geht, nicht um
Kultur.
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