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und Geschichtenerzähler Daudet spiel-
te darin seine Beobachtungsgabe, sein
feines Gespür für Stimmungen aus,
und natürlich schärfte sich diese
Wahrnehmung noch aus der Distanz.
Die Briefe leben von dieser genauen
und dabei doch überzeichneten, bald
verklärenden, bald spöttelnden Sicht
auf die Idylle von Fontvieille.
Obwohl Bewunderer Mistrals und in
Kontakt stehend mit den Felibres,
schrieb Daudet also ganz für ein Pa-
riser Publikum. In manchem erinnert
das an Pagnol: Beide trieb der un-
bedingte Wille, erfolgreich zu sein mit
ihrer Kunst, beiden gelang es nicht zu-
letzt, indem sie ihre Heimat stilisierten,
beiden trug genau dies nicht wenig
Kritik ein. Gerade mit dem „Tartarin
von Tarascon“ zog Daudet den Ärger
vieler Provenzalen auf sich. In dieser
Figur hatte er in satirischer Übersteige-
rung vereint, was er als Eigenart des
provenzalischen Menschenschlags an-
sah: Tartarin, aufschneiderischer Fan-
tast und doch biederer Kleinbürger.
Das verübelte man ihm so, wie man
Pagnol den „Marius“ verübeln würde.
Denn die Tartarins und Marius' waren
es, die im übrigen Frankreich das Kli-
schee, oder besser, das Zerrbild des
Provenzalen mitzeichneten - und un-
erhörten Erfolg ernteten. Ebenso wie
Pagnols Kindheitserinnerungen, zäh-
len Daudets „Briefe“ bis heute zu den
Klassikern großer und doch leichter Li-
teratur und damit auch zur Pflichtlek-
türe jedes Schulkindes.
Doch man täte Daudet Unrecht, re-
duzierte man ihn auf diesen Aspekt.
Die provenzalische Phase seines Wer-
kes war ohnehin bald abgeschlossen.
Die Originalität des Alphonse Daudet
liegt darin, ganz Realist zu sein in der
Beobachtung des Lebens, in der Schil-
derung eines Milieus, des „peuple de
Paris“ etwa, sich aber nie der naturalis-
tischen Schule so weit zu unterwerfen,
dass Kälte und Distanz seinen Stil hät-
ten prägen können. Daudet ist der Mit-
fühlende, mehr noch, der Mitleidende
seiner Figuren. Die vordergründige
Heiterkeit seiner Geschichten wech-
selt allzu oft in leise Melancholie.
Dann kaschiert allein die Fähigkeit zur
Selbstironie den tiefen Pessimismus
Daudets.
Der Schriftsteller selbst sollte bis zu
seinem Tod 1897 nicht mehr in der
Provence ansässig werden. Ein halbes
Jahrhundert später, 1942, starb aber in
St-Rémy sein Sohn: Léon Daudet.
Auch er hatte sich als Schriftsteller ver-
sucht, zunächst mit literarischen Por-
träts der Größen aus dem Umfeld sei-
nes Vaters. Bekannt wurde Leon Dau-
det, anfangs ein Anhänger deutscher
Philosophie und Bewunderer Wag-
ners, durch seine politischen Ambitio-
nen. Unter dem Eindruck der Dreyfus-
Affäre entwickelte er sich zum Natio-
nalisten und als Mitherausgeber der
Zeitung „L'Action Française“ zu einem
bekannten Polemiker nicht zuletzt ge-
gen Deutschland.
Henri Bosco
Des Provenzalen Heimat ist nicht
die Provence, nein, es ist nur jener
spezielle Teil der Provence, in dem er
geboren ist: die Camargue, die Alpilles
oder das Comtat.
 
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