Biology Reference
In-Depth Information
Vom lebendigen Organismus zur biologischen Maschine
Das Bild von der mechanischen Natur entstand im Europa des siebzehnten Jahrhunderts
in einer Zeit verheerender Religionskriege. Das Ansprechende an der mathematisch for-
mulierten Physik lag auch darin, dass sie anscheinend aus allen strittigen Glaubensfra-
gen herausführen konnte, weil sie ewige Wahrheiten offenbarte. Die Pioniere der mech-
anistischen Naturwissenschaft sagten sich, sie seien auf dem Weg zu einem neuen Ver-
ständnis der Beziehung zwischen Natur und Gott, wobei sich der Mensch einer got-
tgleichen mathematischen Allwissenheit annähere, die ihn über die Beschränkungen des
menschlichen Geistes und Körpers erheben würde.
Galilei drückte es so aus:
Wenn Gott die Welt hervorbringt, so bringt er einen durch und durch mathemat-
ischen Bau hervor, der den Gesetzen der Zahl, der geometrischen Figur und der
quantitativen Funktion gehorcht. Die Natur ist ein verkörpertes mathematisches Sys-
tem. [49]
Es gab da jedoch ein beachtliches Problem: Unsere Erfahrung ist größtenteils nicht
mathematischer Art. Wir schmecken Speisen, ärgern uns, freuen uns an der Schönheit
der Blumen, lachen über Witze. Um das Primat der Mathematik durchzusetzen, mussten
Galilei und seine Nachfolger zwischen mathematisch erfassbaren »primären Qualitäten«
wie Bewegung, Größe und Gewicht und rein subjektiven »sekundären Qualitäten« wie
Farbe und Geruch unterscheiden. [50] Die reale Welt sahen sie als objektiv, quantifizierbar
und mathematisch. Persönliche Erfahrung war dagegen subjektiv, das Reich der Meinun-
gen und Einbildungen, nicht zur Wissenschaft gehörig.
Der Hauptvertreter der mechanischen oder mechanistischen Naturphilosophie war
René Descartes. Sie offenbarte sich ihm am 10. November 1619 in einer Vision, als er
»von Begeisterung erfüllt war und der Grundlagen einer wunderbaren Wissenschaft teil-
haftig wurde«. [51] Er sah das gesamte Universum als ein mathematisches System, und
danach erschien ihm der Äther als gewaltige Wirbel von feinstofflicher Materie, die die
Planeten entlang ihrer Kreisbahnen trugen.
Descartes führte die Mechanismusmetapher viel weiter als Kepler und Galilei und
dehnte sie auf das Reich des Lebendigen aus. Besonders faszinierten ihn die sinnreich
erdachten Maschinen seiner Zeit, etwa Uhren, Webstühle und Pumpen. In seiner Jugend
hatte er mechanische Modelle für Szenen aus dem Tierreich ersonnen, etwa einen Fasan,
dem ein Spaniel nachstellte. Kepler hatte das neue Maschinenbewusstsein auf den Kos-
Search WWH ::




Custom Search